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Engelsnacht

Engelsnacht

Titel: Engelsnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Kate
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öffnete den Mund. Aber bevor sie etwas sagen konnte, hatte Daniel sich schon umgedreht und war hastig davongegangen. Luce konnte sehen, wie die Schatten sich über seinem Kopf zusammenzogen, im Kreis wirbelten und durch das Fenster in die Nacht hinaus verschwanden.
    Sie fröstelte von dem eisigen Lufthauch, der danach zu spüren war, und stand dann noch lange reglos da, berührte mit den Fingern die Stelle an ihrer Schulter, wo Daniel sie berührt hatte, und merkte, wie die Hitze in ihrem Körper allmählich verebbte.

Vier
    Grabpflege

    Ahhh, Dienstag. Waffeltag. Solange Luce sich erinnern konnte, bedeutete ein Dienstagmorgen im Sommer frischen Kaffee, randvolle Schüsseln mit Himbeeren und Schlagsahne und einen hohen Turm knuspriger, goldbrauner Waffeln. Sogar in diesem Sommer, als ihre Eltern sich nicht mehr so wie früher verhielten und sich manchmal vor ihr zu fürchten schienen, war Dienstag immer Waffeltag gewesen. Darauf konnte sie felsenfest vertrauen. Wenn sie sich an einem Dienstagmorgen noch einmal im Bett umdrehte, wusste sie automatisch, welcher Tag war. Heute ist Dienstag, Waffeltag, kam ihr dann immer als Erstes in den Sinn.
    Luce schnupperte, wurde allmählich wacher, schnupperte dann noch einmal. Mit größerer Vorfreude. Nein, es roch nicht nach Waffelteig. Nichts als der leicht säuerliche Geruch nach Putzmittel und abblätternder Farbe. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und musterte im Dämmerlicht ihr karges Wohnheimzimmer. Es sah aus wie aus einer der Heimwerkersendungen im Vorabendprogramm: die Aufnahme, bevor die Wohnung endlich renoviert wurde. Dann war plötzlich alles wieder da, der lange Tag gestern, Montag, der unendliche Albtraum, der für sie begonnen hatte. Sie hatte ihr Handy abgeben müssen. Dann der Zwischenfall in der Cafeteria. Wie Arriane zuckend auf dem Boden lag. Daniel.
Daniel, der sie zwei Mal hatte abblitzen lassen. Warum er sich ihr gegenüber so abweisend verhielt, wo er sie doch gar nicht kannte, war Luce ein Rätsel.
    Sie setzte sich auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war noch früh am Morgen und nicht das kleinste Stückchen Sonne am Horizont zu entdecken. Sie wachte normalerweise nie so früh auf. Wenn sie es sich so recht überlegte, konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals den Sonnenaufgang erlebt zu haben. Ehrlich gesagt hatte sie der Gedanke, die Sonne aufgehen zu sehen, schon immer in leichte Panik versetzt. Dieses Warten, bevor die Sonne sich über den Horizont schob, während man in der Dämmerung saß und über die dunklen Umrisse der Bäume hinwegblickte. Das Zwielicht. Die Zeit der langen Morgenschatten.
    Luce gab einen einsamen, heimwehkranken Seufzer von sich, nach dem sie sich nur noch einsamer und noch heimwehkranker fühlte. Was sollte sie bloß mit sich anstellen in den drei Stunden zwischen dem Morgengrauen und der ersten Unterrichtsstunde? Morgengrauen - warum hakte sich das Wort so in ihr fest? Oh. Verdammt. Sie sollte ja um diese Zeit zur Strafarbeit auf dem Friedhof antreten.
    Sie krabbelte aus dem Bett, wäre beinahe über ihre immer noch nicht ausgepackte Reisetasche gestolpert und zog einen frischen Sweater heraus. Schwarz und langweilig, wie alle anderen Sweater auch. Dann schlüpfte sie in ihre schwarzen Jeans von gestern, stöhnte auf, als sie im Spiegel ihren zerzausten Kopf sah, fuhr sich mit den Fingern schnell durch die Haare und war auch schon zur Tür hinaus.
    Als sie das kunstvoll mit schmiedeeisernen Ornamenten verzierte Eingangstor zum Friedhof erreichte, war sie völlig außer Atem. Der fürchterliche Gestank des Stinktierkohls stieg ihr in die Nase und sie fühlte sich total allein gelassen.
Wo waren Arriane und Molly? Hatte sie das mit dem »Morgengrauen« falsch verstanden? Sie blickte auf die Uhr. Bereits Viertel nach Sechs.
    Am Friedhof hatte es geheißen. Oder auf dem Friedhof? Aber wo? Luce war sich ziemlich sicher, dass das der einzige Eingang war. Sie stand halb drinnen, halb draußen, an der Schwelle zwischen dem groben Asphalt des Parkplatzes und dem verwahrlosten, von Gräsern und Unkraut überwucherten Gräberfeld. Löwenzahn wuchs hinter dem Tor, und Luce wollte ihn schon fast abpflücken, sich einen Wunsch ausdenken und blasen. Früher hätte sie das gemacht, aber jetzt nicht mehr. Ihre Wünsche passten nicht mehr zu einer zarten, leichten Pusteblume.
    Nur das schmiedeeiserne Tor trennte den Friedhof vom Parkplatz. Eigentlich erstaunlich, dachte Luce, wo doch sonst auf dem Schulgelände fast

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