Engelsnacht
jetzt trotzdem auf ihrem Zimmer stehen. In der Not war sie erfinderisch geworden und hatte mit ihrer Nagelschere eine Plastikwasserflasche zu einer Ersatzvase zurechtgeschnitten.
Die weißen Päonien dufteten und hellten ihre Stimmung auf, aber ihre Botschaft war dennoch unklar. Wenn ein Junge einem Blumen schenkte, so war dies normalerweise doch wohl ein deutliches Zeichen. Aber bei Daniel hatte bisher keine dieser Regeln gegolten. Deshalb war es besser, vorsichtshalber erst mal davon auszugehen, dass er sie ihr gebracht hatte, weil man so etwas eben tut, wenn man einen Krankenhausbesuch macht.
Aber trotzdem: Er war gekommen und er hatte ihr einen Blumenstrauß gebracht! Und nicht nur irgendwelche Blumen, sondern weiße Pfingstrosen. Wenn sie den Kopf wandte und zum Wohnheim blickte, dessen eine Seite zum Friedhof zeigte, konnte sie sich fast einbilden, da oben, drittes Fenster von links, die weißen Blüten hinter den Metallstäben zu erkennen.
»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen«, leierte ein nach Stundenlohn bezahlter Priester vor der Menge ins Mikrofon. »Bis dass du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden.«
Der Priester war ein ungefähr siebzigjähriger, hagerer Mann, der in seinem viel zu großen schwarzen Jackett fast verloren wirkte. Er trug abgewetzte Turnschuhe, sein Gesicht war vernarbt und sonnenverbrannt. Das Mikrofon in seiner Hand war mit einem Ghettoblaster verkabelt, der offensichtlich noch aus den achtziger Jahren stammte. Der Ton, der aus dem Gerät kam, knisterte und klang verzerrt. Die Stimme trug kaum über die Menge.
Alles an dieser Trauerveranstaltung war unangemessen und falsch.
Niemand erwies Todd eine letzte Ehre, indem er hier war. Die gesamte Zeremonie schien vielmehr dem Zweck zu dienen, den Schülern klarzumachen, wie ungerecht das Leben sein konnte. Weder Todds Leichnam noch seine Eltern waren anwesend, was allein schon genug über das - nicht vorhandene - Verhältnis der Trauergäste zu dem Jungen aussagte. Keiner hatte ihn wirklich gekannt, dafür war er noch nicht lange genug an der Schule gewesen; keiner würde ihn jetzt noch besser kennenlernen können. Warum also standen sie alle hier herum und heuchelten Trauer, die sie gar nicht empfinden konnten; das alles fühlte sich so verlogen an, dachte Luce, und die paar Personen, die weinten, machten es nur noch schlimmer. Dadurch wurde ihr Todd noch fremder, als er es ihr in der kurzen Zeit, die sie sich gekannt hatten, geblieben war.
Lasst ihn in Frieden ruhen. Und ihr anderen - lebt einfach weiter.
Eine weiße Ohreule schrie auf einem Ast der großen Eiche über ihren Köpfen. Luce wusste, dass hier irgendwo ein Nest mit frisch geschlüpften Eulen sein musste, denn sie hatte den ängstlichen Ruf der Mutter in dieser Woche jede Nacht gehört und manchmal auch beobachtet, wie der Vater auf seiner nächtlichen Jagd über den Himmel glitt.
Und dann war die Zeremonie vorbei. Luce war froh, nicht mehr stehen zu müssen. Sie fühlte sich schwach und matt. Es war so ungerecht, dass Todd sterben musste. Er war unschuldig gewesen und sie fühlte sich schuldig, wenngleich sie nicht genau wusste, worin ihr Vergehen bestand.
Als sie den anderen Schülern folgte, die im Gänsemarsch zu dem sogenannten Empfang marschierten, legte sich plötzlich ein Arm um ihre Hüfte und zog sie zur Seite.
Daniel?
Nein. Es war Cam.
Er schaute ihr in die Augen und schien ihre Enttäuschung zu bemerken, was es nur noch schlimmer machte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht loszuheulen. Ihr mussten doch nicht gleich die Tränen kommen, bloß weil Cam vor ihr stand - aber sie war so durcheinander, ihre Nerven spielten verrückt. Sie biss so fest, dass sie Blut schmeckte, und wischte sich mit der Hand über den Mund.
»Hallo«, sagte Cam und strich ihr über die Haare. Luce zuckte zusammen. Dort wo ihr Hinterkopf auf der Stufe aufgeschlagen war, hatte sie eine große Beule. »Willst du irgendwohin gehen, wo wir ungestört reden können?«
Sie waren über die weite Grasfläche des Geländes zur anderen Seite unterwegs, wo im Schatten einer großen Eiche alles für den sogenannten Empfang vorbereitet war. Übereinandergestapelte Plastikstühle waren bereitgestellt. Daneben wartete ein Klapptisch, auf dem billige Kekse verteilt
waren, die man nur aus den Pappschachteln genommen hatte, sonst nichts weiter. Eine riesengroße Schüssel aus durchsichtigem Plastik war mit
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