Engelsnacht
Kuchen. Er starrte den Zuckerguss an. »Alles in Ordnung?«, fragte Gabbe flüsternd Luce.
Luce nickte. Zum ersten Mal war Gabbe genau in dem Moment aufgetaucht, als sie Hilfe brauchte. Gabbe zwinkerte ihr zu, sie lächelten sich an. Luce brach ein winziges Stück von dem Kuchen ab und steckte es in den Mund. Es schmeckte süß.
»Bowle klingt großartig«, zischte Cam. »Warum bringst du uns nicht zwei Gläser, Gabbe?«
Gabbe verdrehte die Augen. »Tu einem Mann einen Gefallen und er behandelt dich wie seine Sklavin.«
Luce lachte. Cam wirkte etwas aus dem Konzept gebracht, aber sie wusste genau, was sein Hintergedanke war.
»Ich werd uns was zu trinken holen«, sagte sie und hüpfte davon zum Tisch mit der Fruchtsaftbowle. Sie brauchte einen Augenblick für sich. Luce wedelte gerade die Fliegen von der Schüssel weg, als eine Stimme ihr zuflüsterte: »Willst du auch von hier weg?«
Luce fuhr herum, die erstbeste Entschuldigung, die ihr einfiel, auf den Lippen, um Cam klarzumachen: Nein, sie konnte nicht weg - nicht jetzt und nicht mit ihm. Aber es war nicht Cam, der von hinten den Arm um sie legte und mit dem Daumen über ihr Handgelenk strich.
Es war Daniel.
Sie schmolz dahin. Aber sich von hier fortstehlen? Mit Daniel? Vom sogenannten Empfang nach der Trauerfeier? Luce nickte.
Cam würde sie hassen, wenn er sie nun mit Daniel fortgehen sah. Und er würde sie mit ihm fortgehen sehen. Er würde ihr nachblicken. Sie konnte jetzt schon spüren, wie sich seine Augen in ihren Hinterkopf bohrten. Aber sie musste von hier fort. Mit Daniel. Sie schmiegte ihre Hand in seine. »Ja.«
All die anderen Male, wenn sie sich berührt hatten, war es entweder rein zufällig gewesen oder einer von ihnen beiden - normalerweise Daniel - war zurückgewichen, bevor die Wärme, die Luce dann immer in ihrem Körper spürte, zu einer mächtigen Hitze anschwoll. Aber diesmal nicht. Luce schaute auf Daniels Hand, die ihre Hand umfasste, und ihr ganzer Körper wollte mehr. Mehr von dieser Hitze, mehr von diesem Kribbeln, mehr von Daniel. Es war beinahe -
wenn auch nicht ganz - wie in ihrem Traum. Sie konnte kaum mehr ihre Füße unter sich spüren, die immer noch den Boden berührten. Sie spürte nur noch seine Berührung.
Ihr war, als hätte sie nur einmal geblinzelt, und dann standen sie auch schon vor dem Friedhofstor. Sie hatten all die anderen Menschen zurückgelassen, um die Bowle, die Kekse und den Angelcake versammelt, und waren jetzt ganz allein.
Daniel blieb plötzlich stehen und ließ ihre Hand fallen. Luce zitterte, ihr war mit einem Mal kalt.
»Du und Cam«, sagte Daniel und ließ die Wörter wie Fragezeichen in der Luft hängen, »verbringt ihr eigentlich viel Zeit zusammen?«
»Klingt so, als wärst du davon nicht sehr angetan«, antwortete Luce, um es dann im nächsten Augenblick schon zu bedauern, dass sie so kokett reagiert hatte. Sie hatte ihn nur aufziehen wollen, weil er fast etwas eifersüchtig geklungen hatte. Aber sein Gesicht und seine Stimme waren ernst.
»Er ist nicht -«, setzte Daniel an. Er beobachtete einen Trauerhabicht, der sich in ihrer Nähe auf einer Eiche niederließ. »Er ist nicht gut genug für dich.«
Luce hatten diesen Satz schon tausendmal gehört. Das sagten doch immer alle. Nicht gut genug. Aber als diese Worte über Daniels Lippen kamen, klangen sie so bedeutsam, so notwendig und wahr, nicht einfach nur abschätzig und bevormundend, wie sich dieser Satz für sie in der Vergangenheit immer angehört hatte.
»Mag sein«, sagte sie mit leiser Stimme, »aber wer ist es dann?«
Daniel stützte die Hände in die Hüften. Er musste lachen. Er lachte eine ganze Weile. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Fürchterlich schwierige Frage.«
Das war nicht gerade die Antwort, die Luce sich erhofft
hatte. »Na, so schwierig ist es auch wieder nicht, gut genug für mich zu sein.« Sie steckte die Hände fest in die Seitentaschen ihres Kleids, weil sie sie sonst nach ihm ausgestreckt hätte, um ihn zu umarmen.
Der Ausdruck in Daniels Augen veränderte sich, als würden sie plötzlich hart auf der Erde aufschlagen, das Violett, das zuvor in ihnen geleuchtet hatte, verwandelte sich in ein dunkles Grau. »Doch«, sagte er. »Doch, das ist es.«
Er rieb sich die Stirn und schob seine Haarsträhnen dabei einen Moment zurück. Nur eine Sekunde, dann waren sie ihm wieder ins Gesicht gefallen, aber es dauerte lange genug, dass Luce erneut die Schnittwunde auf seiner Stirn bemerken
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