Engelsrache: Thriller
Barlowe in den nächsten Tagen wegen des Mordes an Tester verhaftet.« Ich war froh über jede Gelegenheit, das Gespräch von mir selbst abzulenken.
»Glaubst du, dass sie Tester umgebracht hat?«
»Ich weiß, dass sie Tester nicht umgebracht hat.«
»Und woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach.«
»Woher?«
Ich sah sie ausdruckslos an. Sagen konnte ich es ihr nicht, aber Caroline war eine kluge Frau. Dann fiel bei ihr der Groschen.
»Hat Angel dir etwa gestanden, dass sie selbst Tester umgebracht hat?«
Ich nickte.
»Und jetzt weißt du nicht, was du tun sollst?«
»Im Augenblick geht es vor allem darum, wie ich das alles überstehe. Du weißt ja, dass ich Sarah im Zeugenstand in die Enge treiben muss, falls das Verfahren fortgesetzt wird. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viel Angst ich davor habe.«
»Warum tut sie das bloß, Joe? Irgendwas stimmt doch nicht mit ihr.«
»Willst du das wirklich wissen? Du wirst nicht gerade erbaut sein, wenn ich dir den Grund dafür erzähle.«
»Natürlich möchte ich den Grund wissen. Ich glaube, das ist mein gutes Recht.«
Ja, es war tatsächlich ihr gutes Recht. Ich sah sie an und musste an Ma denken, an die Qualen, die ich gelitten hatte, weil sie mir ihr Herz nicht hatte öffnen können. Und dann war da noch jenes Gefühl der Leere, unter dem ich selbst immer wieder litt, weil ich ebenso wenig in der Lage gewesen war, ihr mein Herz zu öffnen. Mir fielen die Albträume wieder ein, die Depressionen, die nagenden Ängste, die mich selbst so oft gequält hatten, weil ich mir wie ein lächerlicher Feigling vorgekommen war. Ich sah Caroline an, sah die aufrichtige Besorgnis in ihren Augen und wusste, dass ich diese Dinge nicht länger vor meiner Frau geheim halten durfte. Ich durfte nicht denselben Fehler begehen, den meine Mutter begangen hatte. Es war an der Zeit. Es war höchste Zeit, dass ich mich öffnete.
Ich erzählte Caroline, was Tester mit Angel gemacht und was Onkel Raymond Sarah angetan hatte. Als sie hörte, was Sarah widerfahren war, setzte sich Caroline neben mich und nahm mich in die Arme. Ich spürte ihren Atem an meiner Haut, roch ihren vertrauten Geruch, und plötzlich war es mir egal, ob sie mich für schwach hielt, denn ich war in diesem Augenblick ja wirklich schwach. Ich konnte nicht mehr anders, als mich dem einzigen Menschen zu offenbaren, dem ich je voll vertraut hatte. In manchen Augenblicken weinte ich so heftig, dass ich kaum noch Luft bekam. Anfangs war ich noch beschämt und zögerlich, doch als ich einmal angefangen hatte, konnte ich nicht mehr aufhören. Nach zwanzig Jahren offenbarte ich mich Caroline zum ersten Mal rückhaltlos.
Ich erzählte ihr, wie schwer es gewesen war, ohne Vater aufzuwachsen. Ich erzählte ihr von den brutalen Dingen, die ich in Grenada getan und gesehen hatte. Ich erzählte ihr von Billy Dockery. Ich erzählte ihr von Maynard Bush und Bonnie Tate und gestand ihr, wie ich mich an dem Tag gefühlt hatte, als die Brüder Bowers im strahlenden Sonnenschein gestorben waren. Ich erzählte ihr von den Gefühlen, die ich meiner Mutter entgegengebracht hatte. Ich redete bis in die frühen Morgenstunden. Noch nie hatte ich etwas Ähnliches erlebt. Als es dann vorbei war, verstand ich zum ersten Mal, wie ungemein befreiend eine Beichte sein kann.
»Weißt du, was?«, sagte Caroline, als ich irgendwann zu erschöpft war, um noch weiterzureden. Sie legte mir die Hände auf die Schultern und schaute mir in die Augen.
»Wenn ich vor Gericht stehen würde, wenn ich Angel wäre, dann könnte ich mir keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt vorstellen, den ich lieber an meiner Seite hätte als dich. Weißt du, warum?«
»Entschuldige bitte, dass ich so furchtbar gewesen bin, als ich gestern Abend nach Hause gekommen bin. Ich komme mir vor wie der letzte Arsch. Und es tut mir auch leid …«
»Pssst. Soll ich dir sagen, warum ich mir keinen anderen Menschen auf der ganzen Welt vorstellen kann, den ich lieber an meiner Seite hätte als dich?«
»Ja, von mir aus. Wieso denn?«
»Weil du ein guter Mann bist, Joe. So einfach ist das. Deshalb habe ich dich geheiratet, und deshalb liebe ich dich seit so vielen Jahren. Deshalb beten deine Kinder dich an. Deshalb hast du trotz allem immer zu Sarah gehalten, und deshalb bist du immer zu deiner Mutter gefahren und hast an ihrem Bett gesessen. Deshalb hast du ein Leben lang versucht, anderen zu helfen. Ich hoffe, dass du immer genau so bleibst, wie du jetzt bist.«
Ihre
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