Engelsrache: Thriller
entgegnete ihm in aller gebotenen Höflichkeit, dass er sich gefälligst verpissen sollte. Er machte die Tür hinter mir zu, und ich hörte, wie er sich draußen auf dem Gang entfernte. Die Zelle war winzig, knapp drei Mal drei Meter – mit grauen Wänden. In dem Raum gab es ein Edelstahlpodest, auf dem eine dünne Matratze lag, ein Edelstahlwaschbecken und eine Edelstahltoilette. Sonst nichts. Weder einen Fernsehapparat noch ein Radio, weder Schreibutensilien noch Bücher oder Zeitschriften, absolut gar nichts, womit man sich hätte ablenken oder sonstwie beschäftigen können. Sarah saß barfuss und mit angezogenen Beinen in ihrem orangefarbenen Overall in der Ecke hinter dem Waschbecken auf dem Fußboden.
»Das sind also die Bedingungen, unter denen die Hauptbelastungszeugin der Staatsanwaltschaft in einem Mordprozess leben muss«, sagte ich. »Wo sie dich wohl eingesperrt hätten, wenn du es abgelehnt hättest, mit ihnen zu kooperieren?«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen, und ich ging zu ihr. Ich ließ mich auf die Knie nieder und legte ihr die Hände auf die Unterarme. Zu meiner Überraschung zuckte sie weder zusammen, noch wich sie zurück. »Du brauchst nichts zu sagen, wenn du nicht möchtest«, sagte ich leise, »aber ich habe vergangene Nacht etwas begriffen, und ich möchte mit dir darüber sprechen. Ich möchte dir sagen, dass mir alles sehr leidtut.«
Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und bemühte mich, die Fassung zu bewahren. Ich wusste selbst nicht, warum. Obwohl es mein größter Wunsch war, alles beiseite zu schaffen, was zwischen uns stand, fühlte ich mich aber auch gedrängt, um jeden Preis die Contenance zu bewahren.
»Tut mir leid, dass ich dich damals allein gelassen habe, Sarah. Tut mir leid, dass ich ihn nicht davon abgehalten habe. Umbringen hätte ich ihn sollen – das Schwein.«
Wie schon in der vergangenen Nacht, als ich mit Caroline gesprochen hatte, verlor ich auch jetzt wieder völlig die Fassung und fing hemmungslos an zu weinen.
»Bitte, Sarah, ich war damals noch so jung. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Bitte verzeih mir.«
Auch sie fing an zu weinen. Deshalb schob ich mich ganz nahe an sie heran und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Wenn das möglich wäre, würde ich so gerne rückgängig machen, was in dem Zimmer damals geschehen ist. Aber wir wissen beide, dass das nicht geht. Ich kann dir nur sagen, wie leid mir das alles tut und dass ich dich liebe. Ich habe dich immer geliebt, Sarah, und daran wird sich auch nie etwas ändern.«
»Du warst damals einfach noch zu klein, Joey«, sagte sie schluchzend. »Wir waren beide doch noch viel zu klein.«
Sie hob den Kopf und legte mir die Arme um den Hals. Mir kam alles so unwirklich vor, dieser Augenblick der Verzweiflung und der Aufrichtigkeit und – wie ich hoffte – auch der Liebe. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich Sarah zuletzt in die Arme genommen hatte, und ich war völlig zufrieden damit, hier in dieser Zelle auf dem Betonfußboden zu knien und ihren Atem an meiner Wange zu spüren. So verharrten wir mehrere Minuten in tiefem Schweigen, beide ebenso betroffen wie verlegen über unsere liebevolle Umarmung.
Schließlich fing sie wieder an zu sprechen.
»Joey, du brichst mir ja das Genick.«
»O Gott, entschuldige bitte.« Manchmal vergaß ich, wie groß ich war. Ich ließ sie los und rutschte ein Stück zurück. »Ich muss unbedingt sofort aufstehen. Ich kann auf dem verdammten Betonboden nicht mehr knien.«
Ich hockte mich auf die Kante ihrer Schlafstätte, und sie setzte sich neben mich. Wir redeten wohl eine ganze Stunde. Anfangs verlief unser Gespräch eher steif und verhalten. Sie erzählte von ihren Qualen und dass ihr die Drogen als einziger Ausweg erschienen waren, um wenigstens vorübergehend Linderung zu finden. Wir sprachen über unsere vaterlose Kindheit und über Ma und darüber, wie sehr auch sie gelitten hatte. Dann richteten wir den Blick in die Zukunft, in die nahe Zukunft, und sprachen über Sarahs Aussichten.
»Und was hast du mit der Staatsanwaltschaft vereinbart?«, fragte ich.
Sie sah mich misstrauisch an. »Bist du nur deshalb gekommen?«
»Bitte, sag doch so was nicht. Du weißt doch genau, weshalb ich gekommen bin. Trotzdem müssen wir auch über dieses Thema reden.«
»Ich habe mit der Staatsanwaltschaft vereinbart, dass ich wahrheitsgemäß aussagen und im Gegenzug sofort auf Bewährung entlassen werde.«
»Und das hast du
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