Engelsstimme
Little Princess.
Er hörte leichte Schritte auf dem Gang und wusste, wer da kam, noch bevor Eva Lind in der Tür auftauchte.
»Die da oben hat mir gesagt, sie hätte gesehen, wie du in den Keller gegangen bist«, sagte Eva und schaute in das Zimmer. Ihre Augen blieben an den Blutflecken auf dem Bett hängen. »Ist es hier passiert?«, fragte sie.
»Ja,« sagte Erlendur.
»Was für ein Plakat ist das?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Erlendur. »Ich begreife nicht, wie du dich so aufführen kannst. Was fällt dir ein, sie eine Tussi zu nennen und ihr nicht die Hand zu geben? Sie hat dir nichts getan.«
Eva Lind schwieg.
»Du solltest dich was schämen.«
»Verzeih mir«, sagte Eva.
Erlendur antwortete nicht. Er stand da und starrte auf das Plakat. Shirley Temple in einem hübschen Sommerkleidchen und einer Schleife im Haar, sie lächelte in Technicolor. The Little Princess. Produktionsjahr 1939, nach einer Erzählung von Frances Hodgson Burnett. Shirley Temple spielte ein munteres kleines Mädchen, dessen Vater ins Ausland ging und sie in den Händen einer unbarmherzigen Schulleiterin zurückließ. Sigurður Óli hatte den Film im Internet gefunden. Die Informationen über den Film sagten aber nichts darüber aus, weswegen Guðlaugur das Plakat bei sich aufgehängt hatte.
Die kleine Prinzessin, dachte Erlendur.
»Ich habe sofort an Mama gedacht«, sagte Eva Lind hinter ihm. »Als ich dich mit ihr in der Bar sah. Und an Sindri und mich, an denen du kein Interesse hattest. Habe an uns alle gedacht, an uns als Familie, denn egal, wie man die Sache auch angeht, wir sind trotz allem irgendwie eine Familie. Jedenfalls finde ich das.«
Sie verstummte.
Erlendur drehte sich zu ihr um.
»Ich kapiere diese Gleichgültigkeit nicht«, fuhr sie fort. »Vor allem, was Sindri und mich betrifft. Ich raff es einfach nicht. Und du hilfst mir auch nicht gerade weiter. Willst nie über was reden, was dich betrifft. Redest nie über was. Sagst nie was. Man könnte genauso gut mit einer Wand reden.«
»Weswegen brauchst du für alles eine Erklärung?«, sagte Erlendur. »Für einige Dinge gibt es einfach keine Erklärung. Einiges braucht man nicht zu erklären.«
»Das sagt ausgerechnet der Cop!«
»Die Leute reden zu viel«, sagte Erlendur. »Man sollte mehr schweigen, dann würde man sich auch keine Blöße geben.«
»Du redest von Verbrechern. Du denkst immer bloß an Kriminelle. Wir sind deine Familie!«
Sie schwiegen.
»Wahrscheinlich habe ich einen Fehler gemacht«, sagte Erlendur schließlich. »Nicht, was deine Mutter betrifft, glaube ich. Oder doch, es kann auch etwas sein, was deine Mutter betrifft. Ich weiß es nicht. Die Leute lassen sich doch andauernd scheiden, und für mich war es unerträglich, mit ihr zusammenzuleben. Aber was dich und Sindri betrifft, das war falsch. Mir ist das wahrscheinlich erst klar geworden, als du mich aufgespürt und angefangen hast, mich zu besuchen, und manchmal hast du sogar deinen Bruder mitgebracht. Ich habe mir einfach nicht klar gemacht, dass ich zwei Kinder besaß, zu denen ich die ganze Zeit keinerlei Verbindung hatte, und die es dann schon so jung aus der Bahn geworfen hat. Dann erst habe ich angefangen, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, ob die Tatsache, dass ich keinen Finger gerührt habe, etwas dazu beigetragen hat. Ich hatte eigentlich so gut wie nie darüber nachgedacht, warum das so war. Genau wie du. Warum ich nicht vor Gericht gegangen bin, um für mein Umgangsrecht zu kämpfen. Um euch bei mir haben zu können. Oder versucht habe, mit eurer Mutter zu reden, um zu einem Kompromiss zu kommen. Oder euch nicht vor der Schule aufgelauert und mir einfach geschnappt habe.«
»Du hattest ganz einfach kein Interesse an uns«, sagte Eva Lind. »Geht es nicht darum?«
Erlendur schwieg.
»Geht es nicht darum?«, wiederholte Eva Lind.
Erlendur schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Ich wollte, es wäre so einfach.«
»Einfach? Was meinst du damit?«
»Ich glaube …«
»Was?«
»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Ich glaube …«
»Ja.«
»Ich glaube, ich bin damals auch in den Bergen geblieben.« »Als dein Bruder umgekommen ist?«
»Es ist schwierig, das zu erklären, und vielleicht ist es gar nicht möglich. Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich, alles zu erklären, und vielleicht gibt es einige Dinge, die am besten unerklärt bleiben.«
»Was meinst du damit, dass du auch in den Bergen geblieben bist?«
»Ich bin nicht … irgendetwas in
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