Engelsstimme
wie bei ihrem letzten Treffen dezent geschminkt, was ihre Gesichtszüge vorteilhaft unterstrich. Unter der schwarzen Lederjacke trug sie eine weiße Seidenbluse. Sie gaben sich die Hand und lächelten zögernd. Er überlegte, ob dieses Treffen ein neuer Beginn für beide sein könnte. Es war ihm nicht klar, was sie von ihm wollte, ihm kam es so vor, als hätte sie das letzte Wort im Hinblick auf ihre Bekanntschaft gesagt, als sie sich in der Lobby begegnet waren. Sie lächelte und fragte, ob sie ihm einen Drink anbieten könne, oder ob er womöglich im Dienst sei?
»In Spielfilmen dürfen Bullen nie trinken, wenn sie im Dienst sind«, sagte sie.
»Ich schau mir keine Spielfilme an«, sagte Erlendur lächelnd.
»Nein«, sagte sie, »du ziehst deine Katastrophenlektüre vor.«
Sie nahmen in einer Ecke der Bar Platz, saßen schweigend da und beobachteten das lebhafte Hin und Her. Je näher Weihnachten rückte, desto lauter wurden die Gäste, fand Erlendur. Unablässig dudelten Weihnachtslieder aus der Lautsprecheranlage, die Ausländer schleppten sich mit extravaganten Paketen ab und tranken Bier, ohne groß darüber nachzudenken, dass es nirgendwo in Europa so teuer war wie in Island.
»Ihr habt es also geschafft, eine Speichelprobe von Wapshott zu kriegen«, bemerkte Erlendur.
»Was ist das eigentlich für ein Typ? Die mussten ihn überwältigen und zu Fall bringen und ihm den Mund gewaltsam öffnen. Es war richtig peinlich, wie er sich aufgeführt hat, er wehrte sich mit Händen und Füßen.«
»Ich weiß nicht genau, woran ich mit ihm bin«, erwiderte Erlendur. »Ich weiß nicht genau, was er eigentlich hier in Island will, und ich bin mir nicht sicher, was er zu verbergen hat.«
Er wollte nicht näher auf Wapshott und auf die Informationen aus England eingehen, nicht auf die Kinderpornos und die Verurteilungen wegen Sexualvergehen. Er fand es unpassend, mit Valgerður darüber zu reden, und außerdem hatte Wapshott trotz allem ein Recht darauf, dass sein Privatleben nicht von ihm breitgetreten wurde.
»Wahrscheinlich bist du eher an so etwas gewohnt als ich«, sagte Valgerður.
»Ich habe noch nie jemandem eine Speichelprobe entnehmen müssen, der zu Fall gebracht werden musste und brüllend und tobend auf dem Boden lag.«
Valgerður lachte.
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte sie. »Ich habe nie mit jemand anderem so zu zweit dagesessen als mit meinem Ehemann – ich glaube, dreißig Jahre lang. Du musst mir verzeihen, wenn ich etwas … linkisch wirke.«
»Dann sind wir beide gleich unbeholfen«, sagte Erlendur. »Ich habe mit so etwas auch kaum Erfahrung. Es ist bald fünfundzwanzig Jahre her, seit ich mich von meiner Frau scheiden ließ. Die Frauen in meinem Leben kann man so ungefähr an drei Fingern abzählen.«
»Ich glaube, ich werde mich von ihm trennen«, sagte Valgerður dumpf. Erlendur schaute sie verblüfft an.
»Was meinst du?«, fragte er. »Willst du dich von deinem Mann scheiden lassen?«
»Ich glaube, zwischen uns ist alles zu Ende, und ich wollte dich um Verzeihung bitten.«
»Mich?«
»Ja, dich«, sagte Valgerður. »Ich benehme mich wie ein Idiot«, seufzte sie dann. »Ich wollte dich benutzen, um mich zu rächen.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Erlendur.
»Ich eigentlich auch nicht. Es war einfach alles so scheußlich, seitdem ich es herausgefunden habe.«
»Was herausgefunden?«
»Dass er mich betrügt.«
Sie sagte das so, als sei es eine Tatsache wie viele andere, mit denen man leben musste. Erlendur konnte ihr nicht anmerken, wie ihr zumute war, er spürte nur die Leere in ihren Worten.
»Ich weiß nicht, wann es begonnen hat, oder warum«, sagte sie.
Sie verstummte und Erlendur, der nicht wusste, was er sagen sollte, schwieg ebenfalls.
»Bist du fremdgegangen?«, fragte sie plötzlich.
»Nein«, sagte Erlendur. »Das hatte nichts mit so etwas zu tun. Wir waren einfach jung, und es gab keinen gemeinsamen Weg für uns.«
»Ein gemeinsamer Weg, was ist das?«
»Und du willst dich von ihm scheiden lassen?«
»Ich versuche, irgendwelche klare Linien zu finden«, sagte sie. »Es hängt natürlich auch davon ab, was er macht.«
»Was bedeutet in diesem Fall fremdgehen?«
»Gibt’s da irgendwelche Optionen?«
»Hat er das seit Jahren gemacht, oder hat es gerade erst angefangen? Hat er vielleicht mehr als eine gehabt?«
»Er sagt, dass er seit zwei Jahren mit derselben Frau zusammen ist. Ich habe es nicht über mich gebracht, ihn nach
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