Engelsstimme
hervorzuholen, was sein Interesse geweckt hatte. Er stand auf und zeigte ihr, was er gefunden hatte.
»Ich habe zuerst gedacht, das ist zu groß geratener Rattendreck.« Er hielt einen kleinen braunen Gegenstand zwischen den Fingern.
»Was ist das?«, fragte Eva Lind.
»Ein Gazetütchen.«
»Gazetütchen?«
»Ja, mit Kautabak, den man sich unter die Lippe schiebt. Irgendjemand hat den Kautabak hier weggeworfen oder ausgespuckt.«
»Wer? Wer ist hier auf dem Gang gewesen?«
Erlendur schaute Eva Lind an.
»Jemand, der sich mehr prostituiert als ich«, sagte er.
Heiligabend
Dreißig
An der Rezeption erfuhr er, dass Ösp im ersten Stock arbeitete. Er holte sich Kaffee und ein Sandwich vom Frühstücksbüfett, und nachdem er gefrühstückt hatte, ging er die Treppe hinauf ins erste Stockwerk.
Er hatte mit Sigurður Óli telefoniert und ihn gebeten, ein paar Informationen für ihn einzuholen, und Elínborg angerufen, um zu erfahren, ob sie sich mit der Frau unterhalten hatte, die Stefanía angeblich im Hotel getroffen hatte, als sie von den Überwachungskameras aufgenommen worden war. Elínborg war aber schon aus dem Haus und antwortete nicht auf ihrem Handy.
Erlendur hatte im Stockfinsteren bis zum Morgen hellwach im Bett gelegen. Als er endlich aufstand, schaute er aus dem Fenster. Dieses Jahr würde es doch keine grüne Weihnachten geben. Jetzt hatte es ordentlich angefangen zu schneien, wie er im Schein der Straßenlaternen erkennen konnte. Dichter Schnee rieselte in den Lichtkegeln sichtbar zu Boden und gab eine sehr weihnachtliche Kulisse ab.
Eva Lind hatte sich im Kellerflur von ihm verabschiedet und ihm gesagt, sie wolle am Abend zu ihm kommen. Sie hatte vor, geräuchertes Lammfleisch zuzubereiten, und er überlegte, was er ihr zu Weihnachten schenken sollte. Er hatte ihr die eine oder andere Kleinigkeit geschenkt, seitdem sie angefangen hatte, Weihnachten bei ihm zu verbringen. Sie hatte ihm Socken geschenkt, von denen sie zugab, dass sie geklaut waren. Und einmal ein Paar Handschuhe, die sie angeblich für ihn gekauft hatte. Die hatte er längst wieder verloren, aber sie fragte nie danach. Vielleicht war es das, was ihm am besten an seiner Tochter gefiel, dass sie niemals nach etwas fragte, es sei denn nach etwas, was wirklich wichtig war.
Sigurður Óli meldete sich wieder und gab ihm einige Informationen durch. Sie waren nicht besonders ergiebig, aber genügten ihm. Erlendur wusste nicht so ganz genau, wonach er suchte, fand es aber der Mühe wert, seine Theorie weiterzuverfolgen.
Genau wie beim letzten Mal beobachtete er Ösp geraume Zeit bei der Arbeit, bevor sie seiner gewahr wurde. Sie schien nicht überrascht, ihn zu sehen.
»Auch schon auf den Beinen?«, fragte sie, als sei er der faulste Gast im ganzen Hotel.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Ich habe sozusagen die ganze Nacht an dich denken müssen.«
»An mich?«, sagte Ösp und warf einen Haufen Handtücher in den Wäschekorb. »Hoffentlich keine Sauereien«, sagte sie. »Mir reichen echt die hier im Hotel.«
»Nein«, sagte Erlendur. »Keine Sauereien.«
»Schwabbel hat mich gefragt, ob ich irgendwelchen Quatsch habe durchsickern lassen. Und der Koch hat mich angeschnauzt, als hätte ich was von seinem Weihnachtsbüfett geklaut. Sie haben gewusst, dass du mit mir geredet hast.«
»Hier im Hotel wissen so ungefähr alle alles voneinander«, sagte Erlendur. »Aber es verrät im Grunde trotzdem niemand etwas über den anderen. Es ist ganz schön schwierig, es mit solchen Leuten zu tun zu haben. Beispielsweise mit dir.«
»Mit mir?« Ösp ging in das Zimmer, das sie gerade sauber machte, und Erlendur folgte ihr wie zuvor.
»Du sagst einem, was du weißt, man glaubt jedes Wort, weil du aufrichtig zu sein scheinst, aber trotzdem sagst du nur einen Bruchteil von dem, was du weißt. Und das ist im Endeffekt auch eine Art Lüge. Solche Art von Lügen nehmen wir bei der Polizei ebenfalls sehr ernst. Weißt du, worüber ich spreche?«
Ösp antwortete ihm nicht. Sie war damit beschäftigt, die Bettwäsche zu wechseln. Erlendur beobachtete sie. Ihr war nicht anzusehen, was sie dachte. Sie tat, als sei er gar nicht im Zimmer. Als könnte sie ihn abschütteln, indem sie so tat, als gäbe es ihn nicht.
»Du hast mir beispielsweise nicht gesagt, dass du einen Bruder hast«, sagte Erlendur.
»Weswegen sollte ich dir das sagen?«
»Weil er in Schwierigkeiten ist.«
»Er ist nicht in Schwierigkeiten.«
»Nicht meinetwegen«, sagte
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