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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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drangespritzt zu sein. Du hast ihn erst kürzlich abgewischt.«
    »Nein«, sagte der Vater, »nicht kürzlich.«
    »Diese Spuren da auf der Treppe«, sagte Elínborg, »die scheinen mir von einem Kind zu stammen, oder irre ich mich da?«
    »Ich sehe keine Spuren auf der Treppe«, erklärte der Vater. »Eben noch hast du von Flecken geredet. Was willst du eigentlich damit sagen?«
    »Warst du zu Hause, als der Junge attackiert wurde?«
    Der Vater schwieg.
    »Er wurde in der Schule überfallen«, fuhr Elínborg fort. »Die Schule war schon zu Ende, aber er hat noch Fußball gespielt, und als er nach Hause wollte, wurde er angegriffen. Wir sind davon ausgegangen, dass es sich so abgespielt hat. Er hat nicht mit dir reden können und auch nicht mit uns. Ich glaube, er will das nicht. Traut sich nicht. Vielleicht, weil die Jungs ihm gesagt haben, dass sie ihn umbringen würden, wenn er der Polizei was verrät. Vielleicht, weil jemand anderes ihm gesagt hat, dass er ihn umbringen wird, wenn er mit uns redet.«
    »Worauf soll das Ganze hinauslaufen?«
    »Warum bist du an dem Tag so früh von der Arbeit gekommen? Du bist mitten am Tag nach Hause gekommen. Der Junge hat sich nach Hause geschleppt, und du hast kurze Zeit später die Polizei verständigt.«
    Elínborg hatte schon vorher darüber nachgedacht, was der Vater in einer normalen Arbeitswoche wohl mitten am Tag zu Hause zu suchen hatte, aber erst jetzt danach gefragt.
    »Niemand hat ihn auf dem Heimweg aus der Schule gesehen«, sagte Erlendur.
    »Du wirst doch wohl nicht etwa andeuten wollen, dass ich … dass ich in dieser Form über meinen Sohn hergefallen bin? Das willst du mir doch wohl nicht zu verstehen geben?«
    »Hättest du etwas dagegen, wenn wir diesem Teppich hier eine Gewebeprobe entnehmen?«
    »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn ihr jetzt verschwindet«, sagte der Vater.
    »Ich will nichts andeuten«, sagte Erlendur. »Der Junge wird früher oder später erzählen, was passiert ist. Vielleicht nicht jetzt und auch nicht nach einer Woche oder einem Monat oder sogar einem Jahr, aber er wird eines Tages davon erzählen.«
    »Raus«, sagte der Vater ungehalten und offensichtlich wütend. »Was fällt dir … Was fällt euch … Haut ab. Verschwindet! Raus mit euch!«
    Elínborg fuhr direkten Wegs wieder zurück ins Krankenhaus und ging in die Kinderabteilung. Der Junge schlief, den Arm in der Binde hängend. Sie setzte sich zu ihm und wartete darauf, dass er aufwachte. Sie hatte eine Viertelstunde dagesessen, als der Junge wach wurde und eine erschöpfte Polizistin an seinem Bett sah, aber nicht den Mann mit der Strickweste und den traurigen Augen, der heute Vormittag bei ihr gewesen war. Sie schauten einander in die Augen. Elínborg lächelte und fragte, so sanft sie nur konnte.
    »War es dein Vater?«
    Später am Abend kehrte sie mit einigen Leuten von der Spurensicherung und einem Durchsuchungsbefehl in der Hand in das Haus in Breiðholt zurück. Sie nahmen die Flecken auf dem Teppich in Augenschein. Sie untersuchten den Marmorboden und den Barschrank. Sie nahmen Proben. Sie saugten Partikel vom Marmorboden auf und schabten den klebrigen Tropfen ab. Sie gingen die Treppe hinauf zum Zimmer des Jungen und untersuchten das Bettgestell. Sie gingen in die Waschküche und nahmen sich Wischlappen und Handtücher vor und die dreckige Wäsche. Sie öffneten den Staubsauger. Sie holten Gewebeproben aus dem Besen. Sie gingen zur Mülltonne und wühlten im Abfall. In der Tonne fanden sie einen Socken des Jungen.
    Der Vater stand in der Küche. Er rief einen Rechtsanwalt an, seinen Freund, sobald die Polizei auf der Bildfläche erschienen war. Der Rechtsanwalt kam unverzüglich und schaute sich den Durchsuchungsbefehl an. Er riet seinem Klienten, sich der Polizei gegenüber nicht zu äußern.
    Elínborg und Erlendur beobachteten die Leute von der Spurensicherung bei der Arbeit. Elínborg warf dem Vater bohrende Blicke zu, der den Kopf schüttelte und wegschaute.
    »Ich begreife nicht, was ihr wollt«, erklärte er, »ich begreife es einfach nicht.«
    Der Junge hatte nicht gegen seinen Vater ausgesagt. Als Elínborg ihn fragte, hatte er keine andere Reaktion gezeigt, als dass sich seine Augen mit Tränen füllten.
    Zwei Tage später meldete sich der Chef der Spurensicherung.
    »Es ist wegen der Flecken auf dem Teppich.«
    »Ja«, sagte Elínborg.
    »Drambuie.«
    »Drambuie? Der Likör?«
    »Es gibt Reste davon im ganzen Wohnzimmer und an den Fußspuren, bis in das

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