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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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ging nie ins Kino und schaute sich nur ganz selten etwas im Fernsehen an, ging nicht ins Theater. Reiste im Sommer allein in Island herum, aber auch seltener in den letzten Jahren. Was machte er, wenn er nicht arbeitete? Er wusste es selber nicht. Meistens war er allein mit sich selbst.
    »Ich lese viel«, sagte er plötzlich.
    »Und was liest du?«, fragte sie.
    Wieder zögerte er, und wieder musste sie lächeln.
    »Ist das so schwierig?«, sagte sie.
    »Über tragische Unfälle und Bergnot«, sagte er. »Tödliche Unfälle in den Bergen. Leute, die vor Kälte und Erschöpfung umkommen. Da gibt’s eine eigene Literatursparte. Das war früher einmal populär.«
    »Unfälle und Bergnot?«
    »Aber auch vieles andere, natürlich. Ich lese viel. Geschichte. Philosophie. Historische Sachen.«
    »Also alles, was vergraben und vergessen ist?«
    Er nickte zustimmend.
    »Die Vergangenheit hält einen in der Hand«, sagte er. »Obwohl sie auch manchmal erlogen sein kann.«
    »Aber warum tödliche Unfälle? Menschen, die im Schneesturm erfrieren. Ist das nicht schrecklich zu lesen?«
    Erlendur lächelte in sich hinein.
    »Du solltest bei der Polizei sein«, sagte er.
    Es war ihr gelungen, in dieser kurzen Abendstunde bis zu einem Bereich in seinem Inneren vorzudringen, der sorgfältig versperrt und verschlossen war, sogar für ihn selber. Er wollte nicht darüber reden. Eva Lind wusste zwar etwas darüber, aber nichts Genaues, und sie sah da auch keine besondere Verbindung zu seinen Interessen. Er saß lange schweigend da.
    »Es hat sich halt mit den Jahren so entwickelt«, sagte er schließlich und bereute diese Lüge sofort. »Aber was ist mit dir? Was machst du, wenn du nicht gerade den Leuten Wattepinnchen in den Mund stopfst?«
    Er versuchte, dem Gespräch eine andere Richtung zu geben und einen leichteren Ton anzuschlagen, aber die Verbindung zwischen ihnen war gestört, und das war seine Schuld.
    »Ich habe eigentlich zu nichts anderem Zeit gehabt als zu arbeiten«, sagte sie und spürte, dass sie unbewusst etwas angerührt hatte, worüber er nicht reden wollte, und sie wusste nicht, was das war. Sie wurde verlegen, und er spürte das.
    »Ich finde, wir sollten das hier bald einmal wiederholen«, sagte er, um den Abend abzuschließen. Die Lüge war zu viel für ihn.
    »Unbedingt«, sagte sie. »Ich war erst ziemlich unschlüssig, aber ich bereue es ganz und gar nicht. Ich möchte, dass du das weißt.«
    »Ich bereue es auch nicht«, sagte er.
    »Gut«, sagte sie. »Dann vielen Dank für alles. Danke für den Drambuie«, sagte sie und leerte das Glas. Er hatte sich ebenfalls einen Drambuie bestellt, um ihr Gesellschaft zu leisten, aber ihn nicht angerührt.
    Erlendur lag ausgestreckt auf seinem Bett im Hotelzimmer und starrte zur Decke. Es war immer noch kalt in dem Zimmer, und er war vollständig angekleidet. Draußen schneite es. Es war weicher und schöner Schnee, der zart vom Himmel rieselte und sich am Boden gleich auflöste. Nicht kalt und hart und gnadenlos wie der Schnee, der tötete und verstümmelte.
     
    »Was für Flecken sind das?«, fragte Elínborg den Vater.
    »Flecken?«, fragte er. »Was für Flecken?«
    »Hier auf dem Teppich«, sagte Erlendur. Elínborg und er waren gerade aus dem Krankenhaus gekommen, wo sie den Jungen besucht hatten. Die Strahlen der Wintersonne fielen auf die mit Teppichboden ausgelegte Treppe, die nach oben führte, wo sich das Zimmer des Jungen befand. Die Flecken im Teppich waren deutlich zu erkennen.
    »Ich sehe keine Flecken«, erklärte der Vater, bückte sich und starrte auf den Teppichboden.
    »Sie sind ziemlich deutlich bei dieser Beleuchtung«, sagte Elínborg und schaute aus dem Wohnzimmerfenster auf die Sonne. Sie stand sehr tief am Himmel und schien einem direkt in die Augen. Sie blickte auf die beigefarbenen Marmorfliesen, die Feuer gefangen zu haben schienen. Nicht weit von der Treppe stand ein schöner Barschrank mit starken Getränken, teuren Likören. Rotwein-und Weißweinflaschen reihten sich wie vorgeschrieben in den entsprechenden Regalen auf. Der Schrank hatte zwei Glastüren, und an einer Tür erkannte Erlendur undeutliche Wischspuren. An der Schrankseite, die zur Treppe ging, hing ein kleiner Tropfen, der anderthalb Zentimeter weit hinabgeflossen war. Elínborg ging mit dem Finger darüber, er war klebrig.
    »Ist hier bei dem Schrank etwas passiert?«, fragte Erlendur.
    Der Vater schaute ihn an.
    »Worüber redest du eigentlich?«
    »Da scheint was

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