Engelsstimme
allerschlimmsten Augenblick im Leben dieses Jungen. Es hätte ja auf einer Probe passieren können oder zu Hause bei ihm. Aber es geschah im Konzertsaal, und der arme Junge …«
Gabríel blickte Erlendur an.
»Ich war mit ihm hinter der Bühne. Der Kinderchor sollte ein paar Lieder mit ihm singen, und viele Kinder aus Hafnarfjörður waren da, angesehene Leute aus dem Musikleben aus Reykjavík, ja sogar einige Kritiker der Zeitungen. Es war viel Reklame für das Konzert gemacht worden. Sein Vater saß selbstverständlich in der ersten Reihe. Der Junge ist später, viel später, einmal zu mir gekommen, als er von zu Hause ausgezogen war, und hat mir gesagt, wie er diesen schicksalhaften Abend erlebt hat, und ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, wie ein einzelnes Ereignis den Menschen für den Rest seines Lebens prägen kann.
Jeder Platz im Stadtkino von Hafnarfjörður war besetzt, und der Saal summte. Er war zweimal zuvor hier in diesem schönen Kino gewesen, um sich Spielfilme anzugucken, und er war begeistert gewesen von allem, was er sah: von der schönen Beleuchtung im Zuschauerraum und der erhöhten Bühne, wo auch Theaterstücke aufgeführt wurden. Seine Mutter war mit ihm dort hingegangen, als »Vom Winde verweht« erneut gezeigt wurde, und er war mit seinem Vater und seiner Schwester hier gewesen, um sich einen neuen Zeichentrickfilm von Walt Disney anzusehen.
An diesem Tag waren die Leute aber nicht gekommen, um die Helden der Leinwand zu bewundern, sondern um ihn zu hören, sie kamen seinetwegen, um seine Stimme zu hören, die sie von seinen Platten her kannten. Er spürte keine Schüchternheit mehr, sondern es war eher ein Gefühl von Ungewissheit. Er war bereits in der Stadtkirche von Hafnarfjörður öffentlich aufgetreten, und in der Schule, und er hatte viele Zuhörer gehabt. Oft war er sehr schüchtern gewesen und hatte sogar richtig Angst gehabt. Später begriff er, dass er in den Augen anderer bewundernswert war, und das half ihm, über die Schüchternheit hinwegzukommen. Es gab einen Grund dafür, warum die Leute kamen und ihn singen hören wollten, und es gab nichts, weswegen er Angst zu haben brauchte. Der Grund waren seine Stimme und sein Gesang. Nichts anderes. Er war ein Star.
Sein Vater hatte ihm die Anzeige in der Zeitung gezeigt: Der beste Knabensopran in Island tritt heute Abend auf. Keiner war besser als er. Sein Vater war überglücklich und viel gespannter auf den Abend als er selbst. Er sprach seit Tagen von nichts anderem. Hätte doch bloß deine Mutter erleben können, dass du im Stadtkino auftrittst, sagte er. Darüber hätte sie sich so gefreut. Darüber hätte sie sich so unsäglich gefreut.
Auch in einem anderen Land war man von seiner Stimme begeistert und wollte ihn auf der Bühne erleben. Eine Platte mit ihm sollte herausgegeben werden. Ich habe es ja gewusst, hatte sein Vater immer wieder gesagt. Er hatte sich große Mühe mit der Vorbereitung der Reise gemacht. Das Konzert im Stadtkino sollte den krönenden Schlusspunkt unter diese Arbeit setzen.
Der Bühnenmeister zeigte ihm, von wo er in den Saal schauen konnte, um zu sehen, wie die Leute hereinströmten. Er lauschte auf das Stimmengewirr und sah viele Gesichter, die er überhaupt nicht kannte und von denen er wusste, dass er sie nie kennen lernen würde. Er sah, wie sich die Frau des Chorleiters mit ihren drei Kindern ans Ende der dritten Reihe setzte. Er sah einige seiner Schulkameraden mit ihren Eltern, sogar einige von denen, die ihn gehänselt hatten. Er sah, dass sein Vater in der Mitte der ersten Reihe Platz nahm und die große Schwester an seiner Seite, die in die Luft starrte. Die Verwandten mütterlicherseits waren auch da, Tanten, die er kaum kannte, Onkel, die ihre Hüte in den Händen hielten und darauf warteten, dass der Vorhang hochging.
Er wollte, dass sein Vater stolz auf ihn sein konnte. Er wusste, dass sein Vater kein Opfer gescheut hatte, nur damit er es als Sänger zu etwas bringen würde, und jetzt sollten sich die Früchte der Arbeit zeigen. Es hatte schier endlose Proben gekostet. Es wäre zwecklos gewesen, sich dagegen aufzulehnen. Er hatte es versucht und damit den Zorn seines Vaters hervorgerufen.
Er vertraute seinem Vater vollkommen, und so war es immer gewesen. Auch als er öffentlich auftreten musste, obwohl er es nicht mochte. Sein Vater hatte ihm zugesetzt und ihn angespornt und zum Schluss seinen Willen durchgesetzt. Ihm war es anfangs eine Qual gewesen, vor Unbekannten
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