Engelsstimme
ein ziemlich fleischiges Gesicht, dicke Lippen und enorme rötliche Säcke unter seinen kleinen und müden Augen. Er erinnerte Erlendur an Fotos von W. H. Auden. Unter der Nase hing ein kleiner Tropfen.
»Bist du Erlendur?«, fragte er.
»Ja.«
»Mir wurde gesagt, ich solle hier ins Hotel kommen und mit dir sprechen«, sagte der Mann, nahm die Schirmmütze ab, schlug sie gegen den Mantel und wischte sich den Tropfen unter der Nase ab.
»Wer hat dir das gesagt?«, fragte Erlendur.
»Nannte sich Marian Briem. Ich weiß nicht, wer das ist. Angeblich mit dem Fall befasst, setzt sich mit Leuten in Verbindung, die Guðlaugur früher gekannt haben. Ich gehöre zu denen, die ihn in der Vergangenheit gekannt haben, und Marian Briem sagte mir, ich solle mit dir darüber sprechen.«
»Wer bist du?« Erlendur kamen die Gesichtszüge irgendwie bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.
»Ich heiße Gabríel Hermannsson und habe früher den Kinderchor von Hafnarfjörður geleitet«, sagte der Mann. »Darf ich mich hier auf das Bett setzen? Diese langen Korridore …«
»Gabríel? Selbstverständlich, bitte sehr, nimm Platz.« Der Mann knöpfte den Mantel auf und lockerte den Schal. Erlendur nahm die eine Plattenhülle zur Hand und betrachtete das Bild des Kinderchors in Hafnarfjörður. Der Chordirigent schaute strahlend in die Kamera. »Das bist also du?«, fragte Erlendur und reichte dem Mann die Hülle.
Der Mann warf einen Blick darauf und nickte.
»Wo hast du die her?«, fragte er. »Diese Platten sind seit Jahren nicht mehr im Umlauf. Ich habe meine verloren, hab sie blödsinnigerweise irgendjemandem ausgeliehen. Man soll nie was verleihen.«
»Er besaß sie selber«, sagte Erlendur.
»Ich war nicht viel älter als achtundzwanzig«, sagte Gabríel, »als diese Aufnahme gemacht wurde. Unglaublich, wie die Zeit vergeht.«
»Was hat Marian Briem dir gesagt?«
»Nicht viel. Ich habe gesagt, was ich über Guðlaugur weiß, und dann wurde mir gesagt, dass ich mit dir sprechen solle. Ich musste sowieso etwas in Reykjavík erledigen und dachte, es sei günstig, die Gelegenheit zu nutzen.«
Gabríel zögerte.
»Ich habe das nicht so richtig an der Stimme erkennen können«, sagte er, »und überlege hin und her, ob das ein Mann oder eine Frau war. Marian? Was für ein Name ist das eigentlich? Komisch nach so was fragen zu müssen, aber ich konnte es einfach nicht raushören. Meistens erkennt man das doch an der Stimme. Ist das ein Männer-oder ein Frauenname? Die Person schien in meinem Alter zu sein, oder vielleicht älter, obwohl ich nicht danach gefragt habe. Komischer Name, Marian Briem.«
Erlendur bemerkte, dass er sehr interessiert klang, so als wäre es ihm außerordentlich wichtig, das in Erfahrung zu bringen.
»Ich habe einfach noch nie darüber nachgedacht«, sagte Erlendur, »über diesen Namen, Marian Briem. Ich habe mir gerade diese Platte angehört«, sagte er und deutete auf die Plattenhülle. »Die Stimme ist beeindruckend, das kann man nicht anders sagen, gemessen am Alter des Jungen.« »Guðlaugur war vielleicht der beste Chorknabe, den Island je besessen hat«, erwiderte Gabríel und betrachtete das Plattencover. »Im Nachhinein lässt sich das sagen. Ich glaube, wir haben uns gar nicht klar gemacht, was uns da anvertraut war, das ist einem erst sehr viel später aufgegangen, vielleicht sogar erst jetzt in den letzten Jahren.«
»Wann hast du ihn kennen gelernt?«
»SeinVater kam mit ihm zu mir. Die Familie wohnte damals in Hafnarfjörður und tut es, soweit ich weiß, immer noch. Die Mutter starb kurze Zeit später, und der Vater kümmerte sich ganz allein um die Erziehung von Guðlaugur und seiner Schwester, die etwas älter war. Der Mann wusste, dass ich ein Musikstudium im Ausland absolviert hatte. Ich habe Musikunterricht gegeben, sowohl Privatunterricht als auch in der Volksschule in Hafnarfjörður und andernorts. Ich wurde als Chorleiter engagiert, als man einen Kinderchor zusammengetrommelt hatte. Es waren in der Mehrzahl Mädchen, das ist meistens so, und deswegen haben wir speziell nach Jungen gesucht. Guðlaugur kam eines Tages mit seinem Vater zu mir nach Hause, da war er zehn Jahre alt und hatte diese wunderbare Stimme. Diese wunderbare Stimme. Und er konnte singen. Ich habe sofort gesehen, dass der Vater extrem hohe Anforderungen an den Sohn stellte und streng zu ihm war. Er sagte, dass er ihm alles, was er über Gesang wusste, beigebracht hatte. Später habe ich
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