Engelsstimme
herausgefunden, dass er ziemlich tyrannisch sein konnte, ihn beispielsweise bestrafte und drinnen im Haus einsperrte, wenn er draußen spielen wollte. Ich glaube, der Junge hat so gesehen keine gute Erziehung genossen, an ihn sind wahrscheinlich durchweg unrealistische Forderungen gestellt worden, und er durfte nur selten mit gleichaltrigen Kindern zusammen sein. Er war ein klassisches Beispiel dafür, wenn Eltern ihre Kinder entmündigen und nach ihren Vorstellungen zu modellieren versuchen. Ich glaube, dass Guðlaugurs Jugend alles andere als glücklich gewesen ist.«
Gabríel verstummte.
»Du hast wohl ziemlich viel darüber nachgedacht, nicht wahr?«, fragte Erlendur.
»Ich habe zusehen müssen, wie dies alles passierte.«
»Was?«
»Es gibt nichts Schrecklicheres, als Kinder mit allen verfügbaren Mitteln streng zu disziplinieren und unzumutbare Anforderungen an sie zu stellen. Und damit meine ich nicht die notwendige Strenge, die jedes Kind braucht, wenn es unartig ist, das ist eine ganz andere Sache. Natürlich müssen Kinder sich an Disziplin gewöhnen. Ich spreche darüber, dass Kinder keine Kinder sein dürfen. Wenn sie nicht die Chance bekommen, das zu sein, was sie sein wollen und was sie sind, sondern unterdrückt und sogar kaputtgemacht werden, um etwas anderes zu sein. Guðlaugur hatte diese schöne Knabenstimme, einen Knabensopran, und sein Vater hatte Großes mit ihm vor. Ich will damit nicht sagen, dass er ihn auf bewusste, berechnende Weise schlecht behandelt hat, er hat ihm nur einfach sein eigenes Leben genommen. Hat ihn um seine Jugend betrogen.«
Erlendur dachte an seinen Vater, der nie etwas anderes gemacht hatte, als ihm gute Sitten beizubringen und ihm seine Zuneigung zu zeigen. Er stellte nur eine einzige Forderung an ihn, sich gut zu benehmen und zuvorkommend zu anderen Menschen zu sein. Sein Vater hatte nie versucht, etwas anderes aus ihm zu machen, als er war. Er dachte auch an den Vater, der wegen brutaler Misshandlung seines Sohns vor Gericht stand, und er sah Guðlaugur vor sich, wie er seine ganze Kindheit hindurch bemüht war, die Erwartungen seines Vaters zu erfüllen.
»Man sieht das am besten bei religiösen Fanatikern«, fuhr Gabríel fort. »Kinder von solchen Sektierern haben keine andere Wahl, als den Glauben der Eltern zu übernehmen, und leben auf diese Weise in Wirklichkeit eher das Leben ihrer Eltern als ihr eigenes. Sie haben nie die Möglichkeit, frei zu sein, aus der Welt auszusteigen, in die sie hineingeboren wurden, und selbstständige Entscheidungen in Bezug auf ihr Leben zu treffen. Die Kinder merken das natürlich erst viel später − wenn überhaupt. Aber als Jugendliche und Erwachsene sagen sie dann oft, ich will das nicht mehr, und dann kann es zu Auseinandersetzungen kommen. Auf einmal will das Kind nicht mehr das Leben seiner Eltern leben, und daraus können schlimme Konflikte entstehen. Es gibt genügend Beispiele: Der Arzt will, dass sein Kind Arzt wird. Der Jurist. Der Direktor. Der Flugkapitän. Überall gibt es Leute, die unzumutbare Anforderungen an ihre Kinder stellen.«
»War das bei Guðlaugur der Fall? Hat er gesagt, jetzt reicht’s mir? Hat er rebelliert?«
Gabríel schwieg eine Weile.
»Hast du seinen Vater kennen gelernt?«, fragte er.
»Ich habe mich heute Morgen mit ihnen unterhalten«, sagte Erlendur. »Mit ihm und seiner Tochter. Da ist Zorn im Spiel und ein tiefer Abscheu, und es liegt offen zutage, dass sie Guðlaugur keine warmen Gefühle entgegengebracht haben. Seinetwegen wurden keine Tränen geweint.«
»Der Vater war im Rollstuhl, nicht wahr?«
»Ja.«
»Das ist ein paar Jahre später passiert«, sagte Gabríel.
»Später als was?«
»Einige Jahre nach dem Konzert. Diesem entsetzlichen Konzert, bevor diese Skandinavienreise starten sollte. Das war nie zuvor passiert, dass ein isländischer Junge auf Konzerttournee ging, um in Skandinavien mit bedeutenden Chören aufzutreten. Sein Vater schickte die erste Platte nach Norwegen, und dort bekam ein Plattenproduzent Interesse und organisierte diese Tournee mit dem Ziel, Schallplatten mit ihm in Skandinavien herauszugeben. Sein Vater hat mir einmal gesagt, dass es sein Traum wäre, wohlgemerkt seiner, nicht der seines Sohns, dass der Junge mit den Wiener Sängerknaben auftrete. Und das hätte er geschafft, das ist gar keine Frage.«
»Was geschah?«
»Was früher oder später immer geschieht mit Knabensopranen, die Natur greift ein«, sagte Gabríel. »Im wahrscheinlich
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