Engelsstimme
von einem derben Stoß an der Schulter, und auf einmal erblickte er ein Gesicht, das er nicht kannte. Er hörte nicht, was der Mann sagte. Er wollte nur weiterschlafen. Er wurde aus dem Schnee hochgerissen, und die Männer wechselten sich darin ab, ihn hinunter ins Tal zu tragen, aber er konnte sich kaum an diesen Gang erinnern. Er hörte Stimmen. Er hörte seine Mutter, die ihn zu wärmen versuchte. Der Arzt kam und untersuchte ihn. Einige Erfrierungen an Händen und Füßen, aber nichts Ernstes. Er konnte in das Zimmer seines Vaters sehen. Sah ihn auf der Bettkante sitzen, als hätte nichts von dem, was geschehen war, irgendetwas mit ihm zu tun.
Zwei Tage später war Erlendur wieder auf den Beinen. Er stand hilflos und verängstigt an der Seite seines Vaters. Seltsame Gewissensbisse fingen an, ihn zu quälen, als er sich zu erholen begann und wieder zu Kräften kam. Weswegen er? Weswegen er und nicht sein Bruder? Wenn sie ihn nicht gefunden hätten, hätten sie dann stattdessen seinen Bruder finden können? Er hätte gern seinen Vater danach gefragt, und er wollte ihn auch danach fragen, warum er nicht an der Suche teilnahm. Aber er stellte keine Fragen. Schaute ihn nur an, schaute auf die tiefen Linien im Gesicht, die Bartstoppeln und die Augen, dunkel vor Trauer.
So verging eine ganze Weile, während sein Vater ihn gar nicht beachtete. Erlendur legte seine Hand auf die des Vaters und fragte, ob es seine Schuld wäre. Weil er ihn nicht fest genug gehalten hatte und besser auf ihn hätte aufpassen sollen. Er hätte bei ihm sein sollen, als sie ihn fanden. Er fragte leise und stockend, aber es war zu viel für ihn, und er fing an zu schluchzen. Sein Vater senkte den Kopf. Seine Augen füllten sich mit Tränen, er umarmte Erlendur und begann auch zu weinen. Der große Mann bebte und zitterte in den Armen seines Sohns.
All das ging Erlendur durch den Kopf, bis er auf einmal die Platte kratzen hörte. Derartige Gedanken hatte er sich schon lange nicht mehr gestattet, aber auf einmal brachen die Erinnerungen über ihn herein, und er verspürte wieder diese tiefe Trauer, von der er wusste, dass sie niemals ganz in Vergessenheit geraten würde.
Eine solche Macht ging von dieser Knabenstimme aus.
Dreizehn
Das Zimmertelefon auf dem Nachttisch klingelte. Er stand auf, nahm die Nadel von der Platte und schaltete den Plattenspieler aus. Valgerður war am Telefon und sagte, dass Henry Wapshott nicht auf seinem Zimmer sei. Als sie ihn im Hotel ausrufen und überall nach ihm suchen ließ, war er nirgends aufzutreiben.
»Er hat gesagt, er würde warten«, sagte Erlendur. »Hat er etwa schon aus dem Hotel ausgecheckt? Er sagte mir, er hätte einen Flug für heute Abend gebucht.«
»Danach habe ich nicht gefragt«, sagte Valgerður. »Viel länger kann ich aber nicht warten, und …«
»Nein, natürlich, entschuldige«, sagte Erlendur. »Ich schicke ihn zu dir, wenn ich ihn finde. Entschuldige bitte.«
»In Ordnung. Dann gehe ich jetzt.«
Erlendur zögerte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, aber er wollte das Gespräch nicht gleich beenden. Das Schweigen zog sich hin, plötzlich wurde an die Tür geklopft. Er ging davon aus, dass es Eva Lind wäre.
»Ich würde dich sehr gerne wieder treffen«, sagte er, »aber ich kann verstehen, falls du keine Lust dazu hast.«
Wieder wurde an die Tür geklopft, diesmal fester.
»Ich würde dir gerne erzählen, was es mit der Bergnot und den tragischen Unfällen auf sich hat«, sagte Erlendur. »Falls du Lust hast, mir zuzuhören.«
»Was meinst du eigentlich?«
»Hast du Lust dazu?«
Er wusste selber nicht ganz genau, was er meinte. Weswegen wollte er dieser Frau sagen, was er außer seiner Tochter nie zuvor jemandem gesagt hatte? Warum konnte er es nicht dabei belassen und weiter sein Leben leben und nichts von außen an sich herankommen lassen, weder jetzt noch später?
Valgerður antwortete nicht gleich, und jetzt wurde zum dritten Mal an die Tür geklopft. Erlendur legte den Hörer auf den Tisch und öffnete die Tür, ohne hinzusehen, wer da zu ihm wollte. Als er den Hörer wieder hochnahm, hatte Valgerður aufgelegt.
»Hallo«, sagte er. »Hallo.« Er erhielt keine Antwort.
Er legte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Im Zimmer stand ein Mann, den er nie zuvor gesehen hatte. Er war klein, trug einen dunkelblauen Wintermantel mit Schal und eine blaue Schirmmütze auf dem Kopf. Wasserperlen glitzerten auf Mütze und Mantel, geschmolzener Schnee. Er hatte
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