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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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lief zur Bühne, um ihren Bruder dazu zu bringen, damit aufzuhören. Zuerst tuschelten die Leute untereinander wegen der Schwierigkeiten, die der Junge zu haben schien, aber bald hörte man hie und da unterdrücktes Lachen im Saal, das immer lauter wurde, und ein paar Leute pfiffen. Gabríel ging zu Guðlaugur und wollte ihn wegführen, aber der stand wie angewurzelt da. Der Bühnenmeister versuchte, den Vorhang heruntergehen zu lassen. Der Ansager war mit einer Zigarette in der Hand auf die Bühne gekommen und wusste nicht, was er machen sollte. Endlich gelang es Gabríel, Guðlaugur von der Stelle zu bewegen und ihn vor sich herzuschieben. Dann war auch seine Schwester auf der Bühne erschienen, nahm ihn bei der Hand und schrie in den Saal, dass die Leute nicht lachen sollten. Sein Vater stand immer noch wie versteinert an demselben Platz in der ersten Reihe. Gabríel kam wieder zu sich und schaute Erlendur an.
    »Mich schaudert es immer noch, wenn ich an diese Szene denke«, sagte er.
    »Die Stimme ist gekippt?«, fragte Erlendur. »In Musik kenne ich mich nicht so …«
    »Man sagt auch, dass die Stimme bricht. Mit der Pubertät werden die Stimmbänder länger. Du verwendest die Stimme wie zuvor, aber sie senkt sich um eine ganze Oktave. Das Ergebnis ist alles andere als schön, es klingt wie Jodeln nach unten. Das ist das, womit alle Knabenchöre zu kämpfen haben. Er hätte möglicherweise auch noch zwei oder drei Jahre weitermachen können, aber Guðlaugur war frühreif. Die Hormonproduktion kam in Gang, und das Ergebnis war der furchtbarste Abend seines Lebens.«
    »Du musst dich sehr gut mit ihm verstanden haben, wenn er später zu dir gekommen ist und mit dir darüber gesprochen hat.«
    »Das kann man schon sagen. Er betrachtete mich als seinen Vertrauten. Ich versuchte, so gut ich es vermochte, ihm zu helfen, und er nahm weiterhin Gesangsstunden bei mir. Sein Vater wollte nicht aufgeben. Aus seinem Sohn sollte ein Sänger werden. Er sprach davon, ihn nach Deutschland oder Italien zu schicken, oder sogar nach England. Dort hat man den Knabensopran am meisten kultiviert, und dort gibt es Myriaden von Chorknaben, deren Karriere ein solches Ende gefunden hat. Nichts ist so kurzlebig wie ein Knabensopran.«
    »Aber es wurde nie ein Sänger aus ihm?«
    »Nein. Das war vorbei. Er hatte eine passable Erwachsenenstimme, aber nicht mehr. Vor allem aber war sein Interesse vorbei. Die ganze Arbeit, die in der Gesangsausbildung steckte, und im Grunde genommen seine ganze Kindheit, wurden an diesem einen Abend zunichte gemacht. Sein Vater ging mit ihm zu anderen Gesangslehrern, aber auch dabei kam nichts heraus, der Funke war erloschen. Er ließ sich wegen seines Vaters zunächst noch eine Zeit lang darauf ein, aber dann warf er alles hin. Er sagte mir, dass es in Wirklichkeit auch nie sein Wunsch gewesen war, Chorknabe und Sänger zu werden, zu singen und aufzutreten. Das alles kam von seinem Vater.«
    »Du hast vorhin gesagt, dass einige Jahre später etwas passiert ist«, sagte Erlendur. »Einige Jahre nach dem Konzert im Stadtkino. Ich hatte den Eindruck, dass das mit dem Vater und dem Rollstuhl zusammenhing. Ist das richtig?«
    »Mit der Zeit entstand eine tiefe Kluft zwischen ihnen. Zwischen Guðlaugur und seinem Vater. Du hast ihr Verhalten gesehen, als er und seine Tochter kamen, um mit dir zu sprechen. Ich kenne andererseits nicht die ganze Geschichte, nur einen Teil davon.«
    »Aber wenn ich dich richtig verstehe, haben Guðlaugur und seine Schwester sich gut verstanden.«
    »Ganz ohne Zweifel. Sie begleitete ihn oft zu den Chorproben und war immer dabei, wenn er auf Feiern in der Schule oder in der Kirche gesungen hat. Sie war gut zu ihm, aber sie hing auch an ihrem Vater. Er war eine unerhört starke Persönlichkeit, unbeugsam und unerbittlich, wenn er seinen Willen durchsetzen wollte, er konnte aber zwischendurch auch mildere Saiten aufziehen. Sie stellte sich zum Schluss ganz hinter ihn. Der Junge rebellierte gegen seinen Vater. Ich weiß nicht ganz genau, was es war, aber zum Schluss hasste er seinen Vater und gab ihm die Schuld daran, wie es gelaufen war. Nicht nur damals, auf der Bühne, sondern im Hinblick auf alles.«
    Gabríel schwieg eine Weile.
    »Bei einem der letzten Male, als ich mit ihm sprach, sagte er, dass sein Vater ihm seine Jugend geraubt hätte. Dass er ihn zum Gespött der Leute gemacht hätte.«
    »Zum Gespött der Leute?«
    »So hat er sich ausgedrückt, aber ich wusste genauso wenig

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