Engelstation
hochwürdiger Schiffsführer.«
»Wir möchten dir zeigen, wie man die Kommunikationstafel bedient. Von dort aus kannst du mit uns sprechen, wenn du etwas brauchst; du kannst auch Musik oder Illustreifen aufrufen, die dir helfen, unsere Sprache zu erlernen.«
»Ich danke dir, hochwürdiger Schiffsführer.«
Maria drehte sich anmutig in der Luft, stellte ihre Füße auf eine Wand, stieß sich sanft ab und packte die gepolsterte Stange über der Kommunikationstafel. Sie glitt mühelos zwischen den Stangen des Kommandokäfigs hindurch und schwebte über der Tafel. Maria sah Zwölf an und zeigte ihre weißen Zähne – ein ›Lächeln‹, wie Zwölf wußte, eine Geste, die er allmählich als beruhigend zu betrachten lernte. »Weißt du, was ein Illustreifen ist?« fragte sie.
»Ein aufgezeichnetes Schauspiel, meist von effekthascherischem Charakter«, sagte Zwölf aus dem Gedächtnis her.
»Verstehst du, daß ein Illustreifen eine Fiktion ist? Daß es nicht wirklich passiert ist?«
Zwölf dachte über diese Vorstellung nach. Obwohl das Wort in seinem Vokabular war, hatte er sich bis jetzt noch keine Gedanken darüber machen müssen. Er unterdrückte einen leichten Schauder. »Dann handelt es sich also um die Aufzeichnung einer Lüge?«
Ubu und Maria sahen erst sich und dann Zwölf an. »Ja«, sagte Maria. »In gewissem Sinn.«
Zwölf erzitterte unter dem Widerstreit zweier Instinkte in seinem Innern. Er wollte seinen Geist nicht mit Unwahrheit vergiften, aber er wollte auch seine Gastgeber nicht beleidigen.
»Illustreifen sind Schauspiele über fiktive Menschen und …« Maria verstummte für einen Moment, sah Ubu an und dann wieder Zwölf. »Sie zeigen etwas, das passieren kann , aber für gewöhnlich nicht passiert, und sind so aufgebaut, daß alles, was langweilig ist, ausgelassen wird. Alles, was nicht wichtig ist.«
Zwölf starrte sie an. Mit einemmal fühlte er sich sehr einsam. »Ich werde darüber nachdenken, schöne Maria.«
»Schauspiele« , warf Ubu mit lauter Stimme ein, »sind voller hypothetischer Handlungen. Sie zeigen, was passieren könnte, und sie erforschen … die Methoden, mit denen Menschen auf Dinge reagieren könnten, die … ihnen zustoßen könnten. Du liebes bißchen. Ich wiederhole mich. Aber …« Er sah Maria an und machte eine komplizierte Geste, bei der sich seine Schultern hoben und senkten.
»Wir wollen nicht, daß du sie allzu ernst nimmst«, erklärte Maria. »Manche sind sehr brutal, und ich möchte nicht, daß du glaubst, daß Menschen normalerweise so gewalttätig sind, wie sie dort dargestellt werden. Aber Menschen finden Gewalt interessant und beschäftigen sich häufig auf künstlerische Weise damit.«
Zwölf brauchte eine Weile, bis er das verdaut hatte. »Illustreifen basieren auf hypothetischen Handlungen?«
»Ja.« Marias Haar trieb vor ihrem Gesicht, und sie entfernte es mit einer Kopfbewegung. Zwölf fragte sich erneut, wozu es bloß gut sein mochte. Bei einer passenden Gelegenheit würde er danach fragen.
»Illustreifen sind also dem Wesen nach lehrreich?« fragte Zwölf. »Sie zeigen, wie Menschen unter bestimmten Umständen handeln sollten? So ähnlich wie die Simulation von Singularitätsschüssen in eurer KI?«
»Ja«, sagte Ubu.
»Nein«, sagte Maria.
Die Erkenntnis, daß die schöne Maria soeben dem Schiffsführer widersprochen hatte, versetzte Zwölf einen jähen, heftigen Schock. Ein Schauer der Todesangst überlief ihn, als er Ubu Roys Rache im Geiste vorwegnahm. Würde er ihre unverzügliche Auflösung anordnen? Oder würde er sie einfach auf der Stelle umbringen und ihr den Kopf abschlagen?
Zu Zwölfs Verwunderung zeigte Ubu keinerlei Reaktion. Er sah Maria nur an, ohne daß seinem Gesichtsausdruck etwas zu entnehmen war. »Ja und nein«, verbesserte Maria. »Das Verhaltensspektrum in Illustreifen umfaßt sowohl positive als auch negative Möglichkeiten. Es zeigt eher die Bandbreite menschlichen Verhaltens als ein einziges – als das, was unbedingt richtig ist.«
Ubu sah Zwölf an. »Maria hat recht«, sagte er.
Zwölf erstarrte vor Verblüffung. Der hochwürdige Schiffsführer hatte nicht nur geduldet, daß man ihm widersprach, sondern hatte sogar zugelassen, daß seine Meinung von der seiner Dienerin beeinflußt wurde.
Zwölf hatte weiche Knie. Er hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren.
Fügsam ließ er sich in der Bedienung der Kommunikationstafel unterweisen. Dann verabschiedeten sich Ubu und die schöne Maria; sie sagten,
Weitere Kostenlose Bücher