Engelstraum: Schatten der Ewigkeit: Roman (German Edition)
zu sagen. »Du kannst einen Engel nur sehen, wenn du stirbst – in den letzten Sekunden vor dem Tod.«
Ihre Mundwinkel bogen sich nach unten. »Hast du es nicht mitgekriegt? Ich bin tot.«
»Nein, du bist untot. Das ist etwas anderes.« Sie war nur für wenige Momente gestorben, nicht lange genug, dass ihre Seele den Körper verlassen konnte. Gerade so lange, dass ihr Körper sich veränderte, als der Virus in sie eindrang.
Denn das war Vampirismus: ein Virus. Einer der sich, sofern man nicht aufpasste, in der gesamten Menschheit ausbreiten könnte, bis sie ausgestorben war. Ausgestorben oder verwandelt.
Er rollte die Schultern und zwang sich, sie anzusehen. »Er ist fort.«
»Er?« Sie sah ihn fragend an. »Konntest du ihn sehen?«
Keine Lügen. »Ich habe genug gesehen.«
»War er das, der in jener Nacht dort war?«, fragte sie verbittert. »War er das Schwein, das seelenruhig zugesehen hat, als mich ein Vampir töten wollte?«
»Nein.« Engel, ob gefallene oder nicht, konnten nicht lügen. Er atmete aus. »Jenes Schwein … nun, das dürfte ich gewesen sein.«
Sechstes Kapitel
»Was?« Ihre Stimme war matt und kalt, genau wie ihr Blick.
Und ihre Zähne wurden länger und schärfer. Wenn die Reißzähne herauskamen, stand Ärger bevor.
Trotzdem musste sie alles erfahren. Nach dem, was er heute Nacht getan hatte, verdiente sie die Wahrheit. »Ich war der Engel in jener Nacht. Ich war es, den du gespürt hast.«
»Du?« Ihre Fingerknöchel wurden weiß, so fest umklammerte sie das Laken vor ihrem Oberkörper. »Du hast gesehen, was er tat?«
»Ich habe alles gesehen.«
»Und du hast nichts getan?«, fragte sie ungläubig, nein, angewidert.
Er machte seinen Rücken gerade. Eine andere Reaktion hatte er nicht erwartet.
»Du hast dagestanden und zugelassen, dass er mich verletzt? Er hat mich mit seinen Krallen aufgeschlitzt, mich gebissen! Verdammt, ich dachte sogar, dass er mich vergewaltigen würde!«
Keenan drehte sich weg von ihr. »Das hat er nicht.« Weil ich es nicht zuließ. Ich brach die Regeln und holte ihn, als ich dich holen sollte.
»Warte. Jetzt kapier ich.«
Keenan sah über die Schulter zu ihr. »Das bezweifle ich.«
Die falschen Worte zur falschen Zeit.
Sie sprang auf ihn zu, und das Laken fiel herunter. »Du warst mein Beschützer, mein Schutzengel, stimmt’s? Dein Job war es, auf mich aufzupassen.«
Nein. Er war nie ein Schutzengel gewesen, und er hätte nicht so sehr auf sie aufpassen dürfen. Doch weil er nicht lügen konnte, schwieg er lieber.
»Ich dachte, Schutzengel müssen ihre Schützlinge vor Schaden bewahren.«
Sollten sie. Ausgenommen, er war in der Nähe. Dann bekamen die Schutzengel neue Schützlinge zugewiesen. Keiner konnte den Tod aufhalten.
Er rieb sich übers Gesicht. Ich habe es.
Hatte er nicht? Oder war dieser Engel heute Nacht aus einem anderen Grund hier gewesen? Sollte er beenden, was Keenan verhindert hatte?
Nein!
Keenan griff nach seiner Jeans und zog sie sich über. Als Nächstes stieg er in seine Schuhe.
»Was hast du vor?«, fragte Nicole.
»Ich muss jemanden suchen.«
»Nein, du gehst jetzt nicht.« Wütend, nackt und unsagbar verführerisch stand sie vor ihm. Das Bett war nur wenige Schritte entfernt. Er war dem Paradies ihres Körpers so nahe gewesen, und nun hatte er diese Chance verloren.
Danke, Az, du Arschloch. Menschliche Flüche und Beleidigungen fielen ihm beständig leichter.
»Du warst dort.« Ihre Abscheu war unübersehbar, als sie seinen Arm packte. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten? Warum hast du mir nicht geholfen?« Ihre Krallen gruben sich in seine Haut, dass er blutete.
Er starrte sie an, spürte den Schmerz kaum. »Du solltest in jener Nacht sterben.«
Ihre Lider zuckten.
»Ich durfte dir nicht helfen. Keiner durfte es.« Das war die kalte, brutale Wahrheit.
Sie erschauderte.
Keenan musste hier raus, weg von ihr, denn er wollte sie in seine Arme nehmen, sie festhalten und beschützen.
Aber die Wahrheit, die eigentliche Wahrheit war, dass er die ganze Zeit die größte Gefahr für sie gewesen war. Er war die Finsternis, die kam, sie zu holen.
In ihrem schlimmsten Moment war er bei ihr gewesen und hatte zugesehen.
All ihr Zorn und ihre Verzweiflung richteten sich auf ihn.
Ihm war, als würde ihm eine Faust in die Brust gerammt. »Ich wollte … dir nicht wehtun.« Noch eine schmerzliche Wahrheit.
»Du hast gesagt, dass ich ein beknackter Schlüssel bin.« Ihre Unterlippe bebte. »Ein Schlüssel zu
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