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Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)

Titel: Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Birgit Lautenbach , Johann Ebend
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wahrzunehmen. Er war voll und ganz damit beschäftigt, sich auf das vorzubereiten, was ihn dort vorne erwartete.
    Von zwei Frauen war die Rede gewesen. Die eine tot, die andere kurz vorm Überschnappen. Das war zumindest Kästners Interpretation. Warum sonst sollte sich jemand nicht von einer Leiche wegholen lassen?
    Ein Paar hatte die beiden entdeckt. Zum Glück hatte der Mann sein Handy dabeigehabt. Zum Glück – das sagte ausgerechnet Kästner, für den nur Spinner und Angeber am Strand telefonierten. Pieplow stellte sich vor, wie die beiden morgens aufgebrochen waren. Mit unbeschwerter Vorfreude auf die Klüfte und Buchten der Steilküste, auf einen schönen Sommertag am Meer. Und nun warteten sie seit fast einer Stunde, dass ihnen jemand das Unerträgliche abnahm, das ihnen stattdessen begegnet war.
    Pieplows Schultern spannten sich wie in Erwartung dieser Last, als Kästner verkündete: »Ich seh’ sie! Genau unten am Swanti.« Er reichte das Fernglas, mit dem er das Ufer abgesucht hatte, an Pieplow weiter. »Von wegen vier Personen. Guck dir an, was da los ist.«
    Mindestens ein Dutzend Menschen mussten es sein, deren Wanderung hier ein ungeplantes Ende gefunden hatte. Zwischen ihnen ein Stück freie Fläche. Eine Schneise, die niemand betreten wollte. In deren Mitte etwas, das aussah wie Strandgut. Steine. Stofffetzen. Auf Knien daneben eine Frau, fast nackt, ein langes Stück Treibholz wie eine Waffe in den Händen. Als ihm klar wurde, was es mit Stoff und Steinen auf sich haben musste, hielt Pieplow für einen Moment die Luft an.
    Dass sie dort, wo das Wasser für den Rettungskreuzer zu flach wurde, in das Beiboot umsteigen mussten, lenkte ihn für eine kurze Weile noch einmal ab. Verschaffte ihm ein paar Minuten Frist, bevor auf ihn zukam, was er sich am allerwenigsten wünschte. Er wollte nicht schon wieder hineingezogen werden in fremde Leben, in die Geflechte aus Wahrheit und Lüge und Angst. Aber genau das würde geschehen. Er spürte es wie einen Sog.
    Der Arzt stieg als Erster aus dem Boot. Den Notfallkoffer in sicherer Höhe über dem Wasser, lief er die letzten Meter zum Strand. Je näher er der Frau kam, umso ruhiger wurden seine Bewegungen. Langsam, als sei Vorsicht geboten, ging er neben ihr in die Hocke, legte ihr behutsam eine Hand auf den Arm und fragte nach ihrem Namen. An ihrer versteinerten Haltung änderte das nichts, auch nicht an dem leeren Blick, mit dem sie erst den Arzt und dann die Polizisten anstarrte. Nur noch ein Flüstern brachte sie zustande: »Ich konnte sie nicht einfach so liegen lassen.« Sie keuchte, als sie sich aufrappelte. Aber sie kam auf die Beine, schaffte sogar ein paar unsichere Schritte auf Pieplow zu. Ihr Mund war trocken und ihre Lippen rissig. »Jemand muss sich um sie kümmern, verstehen Sie?«, sagte sie noch, dann sackte sie lautlos in sich zusammen. Im Fallen schlug ihr rechter Arm auf den flachen Hügel aus Sand und Steinen, zwischen denen der Körper sichtbar wurde, den sie so lange bewacht hatte. Eine Hand. Ein Arm, gipsweiß, blutverkrustet. Unten, zum Wasser hin, leicht seitlich geneigt, ragten die Füße einer Frau aus dem Sand. Über Scham und Bauch lag, mit Steinen beschwert, ein Rucksack. Am oberen Ende, kaum zwei Schritte von der Steilwand entfernt, hob Kästner ein T-Shirt an und ließ es gleich wieder fallen. Wie unter einem jähen Fluchtimpuls jagte sein Blick hin und her. Dann senkte er den Kopf, hob ihn wieder und sah an der Kliffkante vorbei hoch in den Himmel.
    »Was ist? Kennen wir sie?« Pieplow ahnte, was kam.
    Kästner nickte. »Ich glaub’ schon.«
    »Soll das heißen, du bist dir nicht sicher?«
    »Kann man wohl nicht sein«, sagte Kästner nur. Er zog den hellblauen Stoff weit genug herab, dass Pieplow sah, was er meinte.
    Ein Gesicht, so zerstört, dass Kästner, der Wanda nur selten gesehen hatte, sich in der Tat nicht sicher sein konnte. Wanda Sieveking, um es amtlich zu sagen, wohnhaft in Kloster zwischen Hochlandweg und Lietzenburg. Etwa siebzig, vielleicht etwas älter. Heilerin, sagten die einen. Mit Händen, die Wunder vollbrachten. Das Spökenkiekerweib schimpften sie andere. Besser, man hat nichts mit ihr zu tun. »Wer meine Hilfe braucht, wird es wissen«, pflegte Wanda dazu nur zu sagen.
    Bei dem Gedanken, dass sie sich am Ende nicht einmal selbst hatte helfen können, hob Pieplow den Kopf.
    Ausgerechnet an ihrem heiligen Berg, dachte er. Ausgerechnet am Swanti. Wo waren sie gewesen, die Ahnen und Engel und Geister?

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