Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
sie von ihrer besten Seite zu sehen, zeigte sich nichts, was auch nur entfernt meinen Ansprüchen nahekam.
Tony absolvierte sein letztes Quartal in Oxford und kam erst gegen Ende der Saison nach London.
Wie erwartet, wurden wir mit viktorianischer Strenge beaufsichtigt. Tante Sadie oder Onkel Matthew ließ uns buchstäblich keinen Augenblick aus den Augen; da Tante Sadie nachmittags gern ruhte, führte uns Onkel Matthew mit feierlichem Ernst ins Oberhaus, brachte uns auf der Galerie der Peersgattinnen unter und überließ sich dann auf einer Hinterbank gegenüber einem Nickerchen. Wenn er sich in wachem Zustand im Oberhaus aufhielt, was nicht oft vorkam, war er der Schrecken der »Einpeitscher«, die die Abstimmungen koordinierten, weil er nie zweimal hintereinander für dieselbe Partei stimmte; auch war es nicht ganz leicht, dem Gang seiner Ideen zu folgen. Er stimmte zum Beispiel für Stahlfallen, für Hetzjagden und für Steeplechase-Rennen, aber gegen die Vivisektion und gegen den Export alter Pferde nach Belgien. Ohne Zweifel hatte er dafür seine Gründe, wie Tante Sadie in energischem Ton zu sagen pflegte, wenn wir über diese Unbeständigkeit einmal eine Bemerkung machten. Mir gefielen die schläfrigen Nachmittage in der dämmrigen mittelalterlichen Kammer; das Gemurmel und das ständige zeremoniöse Hin und Her bezauberten mich, und außerdem waren die Reden, die man gelegentlich zu hören bekam, meistens recht interessant. Linda gefiel es dort ebenfalls, sie war mit ihren Gedanken weit, weit weg. Onkel Matthew erwachte meist um die Teezeit, geleitete uns dann in den Speisesaal der Peers, wo wir Tee und süße Brötchen mit Butter aßen, und von dort nach Hause, wo wir ausruhen und uns dann für den Ball umkleiden konnten.
Die Zeit von Samstag bis Montag verbrachten die Radletts in Alconleigh; sie fuhren in ihrem großen Daimler hinüber, in dem einem so leicht übel werden konnte; ich verbrachte das Wochenende in Shenley, wo Tante Emily und Davey schon begierig darauf warteten, alles über unsere Woche zu erfahren.
Kleider beschäftigten uns damals mehr als alles andere. Linda hatte irgendwann einmal ein paar Modeschauen besucht und sich dabei einiges abgesehen; sie ließ all ihre Kleider von Mrs. Josh schneidern, und immer hatten sie einen Schick und ein gewisses Etwas, das meinen Kleidern fehlte, obwohl sie in teuren Geschäften gekauft waren und fünf Mal so viel kosteten. Das zeige nur, sagte Davey, der uns immer einen Besuch machte, wenn er in London war, dass man Kleider entweder in Paris kaufen oder sich auf den Zufall verlassen müsse. Linda besaß ein besonders hinreißendes Ballkleid, das aus gewaltigen Fluten von blassgrauem Tüll gefertigt war und ihr bis auf die Füße reichte. In diesem Sommer waren die meisten Kleider noch kurz, und überall, wo Linda in ihren gewaltigen Tüllbahnen erschien, erregte sie großes Aufsehen, übrigens sehr zum Missfallen Onkel Matthews, der drei Frauen gekannt hatte, die in Ballkleidern aus Tüll verbrannt waren.
Dieses Kleid trug sie, als Tony an einem schönen Julimorgen im Sommerhaus am Berkeley Square gegen sechs Uhr früh um ihre Hand anhielt. Vierzehn Tage zuvor war er aus Oxford gekommen, und bald war offenkundig, dass er Augen nur für sie hatte. Er besuchte stets dieselben Bälle, und wenn er dann mit ein paar anderen Mädchen herumgewalzt war, nahm er sie zum Abendessen mit und wich den ganzen Abend nicht mehr von ihrer Seite. Tante Sadie schien nichts zu bemerken, aber für die gesamte übrige Debütantinnenwelt war klar, wie es ausgehen würde, die Frage war nur, wann und wo Tony seinen Antrag machen würde.
Der Ball, auf dem es dann schließlich geschah (er fand in einem wunderschönen alten Haus an der Ostseite des Berkeley Square statt, das inzwischen abgerissen wurde), lag in den letzten Zügen, schläfrig rasselte die Kapelle ihre Melodien in den fast menschenleeren Räumen herunter; die arme Tante Sadie, verzweifelt bemüht, die Augen offen zu halten, saß auf einem goldenen Schemel und sehnte sich nach einem Bett, ich neben ihr, todmüde und frierend, denn alle meine Tanzpartner waren längst nach Hause gegangen. Es war schon heller Tag. Linda war seit Stunden verschwunden, seit dem Abendessen hatte sie anscheinend niemand mehr gesehen, und trotz ihrer übermächtigen Müdigkeit machte sich Tante Sadie Sorgen und schien ziemlich verärgert. Sie fing schon an sich zu fragen, ob Linda gar die unverzeihliche Sünde begangen hatte und in
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