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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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abfiel und eine Kurve beschrieb und der große Wagen verschwand.
    Eine Minute später war er wieder da. Er hielt immer denselben Abstand ein.
    Die schmale Straße verlief zwischen hohen, dunklen Hekken, an denen sich die ersten Knospen zeigten. Durch sie hindurch erhaschte Jericho wie durch eine Laterna magica flüchtige Blicke auf winzige Felder, eine zerfallene Scheune, eine kahle schwarze, von einem Blitzschlag versteinerte Ulme. Dann kam eine längere ebene Strecke.
    Die Sonne war nicht zu sehen. Er schätzte, daß das Tageslicht noch etwa eine halbe Stunde anhielt.
    »Wie weit ist es noch bis Bletchley?«
    »Gleich kommt Stony Stratford, dann sind es noch ungefähr sechs Meilen. Warum?«
    Er schaute abermals in den Rückspiegel und hatte gerade zu sprechen begonnen - »Ich fürchte…«-, als hinter ihnen eine Sirene ertönte. Der große Wagen hatte es schließlich satt, ihnen zu folgen. Er blendete seine Scheinwerfer auf und forderte sie auf, an den Straßenrand zu fahren.
    Bis zu diesem Moment waren Jerichos Begegnungen mit der Polizei selten und kurz gewesen und geprägt von einer übertriebenen Zurschaustellung gegenseitigen Respekts zwischen den Hütern des Gesetzes und dem braven Bürger. Aber diesmal würde es anders sein, das war ihm sofort klar. Eine ungenehmigte Fahrt zwischen geheimen Lokalitäten, keinerlei Beweise dafür, daß ihm der Wagen gehörte, keine Bezugscheine für Benzin, und das zu einer Zeit, in der das Land nach einer vermißten Frau durchkämmt wurde: Was würde ihnen das einbringen? Auf jeden Fall eine Fahrt zur nächsten Polizeistation. Eine Menge Fragen. Einen Anruf in Bletchley. Eine Leibesvisitation.
    Der Gedanke war unerträglich.
    Und deshalb musterte er, zu seiner eigenen Verblüffung, die Straße vor sich wie ein Weitspringer, bevor er losrennt. Über den Bäumen ragten in einiger Entfernung die roten Dächer und der graue Kirchturm von Stony Stratford auf.
    Hester umklammerte die Kanten ihres Sitzes. Er drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
    Der Austin beschleunigte so langsam wie in einem Alptraum, und das Polizeifahrzeug reagierte auf die Herausforderung und begann aufzuholen. Die Nadel des Tachos stieg auf über vierzig, auf fünfzig, auf fünfundfünfzig, auf fast sechzig Meilen. Die Landschaft schien direkt auf sie zuzurasen und erst in der letzten Sekunde an beiden Seiten ganz dicht neben ihnen vorbeizublitzen. Vor ihnen lag eine Hauptstraße. Sie mußten anhalten. Und wenn Jericho ein erfahrener Autofahrer gewesen wäre, hätte er genau das getan, ob mit oder ohne Polizei im Nacken. Aber er zögerte, bis ihm nichts anderes übrigblieb, als so heftig zu bremsen, wie er es riskieren konnte, in den zweiten Gang herunterzuschalten und das Lenkrad scharf nach links zu reißen. Der Motor kreischte. Sie gerieten ins Schleudern und nahmen die Kurve auf zwei Rädern, wobei er und Hester seitwärts geworfen wurden. Das Sirenengeheul ging im Dröhnen eines Motors unter, und plötzlich stürmte der Kühlergrill eines gepanzerten Transportfahrzeugs auf sie zu und füllte ihren Rückspiegel aus. Seine Stoßstange berührte die ihres Austin. Ein wütendes Hupen, so laut wie ein Nebelhorn, schien sie voranzutreiben. Sie schossen über die Brücke, die über den Grand Union Canal führte. Ein Schwan wendete träge den Kopf, um sie zu betrachten, und dann jagten sie durch das Marktstädtchen - nach rechts, nach links, wieder nach rechts, rumpelten über das Kopfsteinpflaster der engen Gassen, wobei das Lenkrad in Jerichos Händen bebte -, nur um von dieser verdammten Römerstraße herunterzukommen. Plötzlich hörten die Häuser auf, und sie befanden sich wieder in offenem Gelände und fuhren am Kanal entlang. Eine Schute wurde von einem Treidelpferd geschleppt. Der Schiffer, der ausgestreckt neben der Ruderpinne lag, nahm grüßend den Hut ab.
    »Hier links«, sagte Hester, und sie bogen vom Kanal ab auf einen Weg, der nicht viel besser war als der Waldpfad. Er bestand aus zwei geteerten Fahrspuren voller Schlaglöcher, die durch einen hohen Grasstreifen voneinander getrennt waren, der an der Unterseite des Wagens schabte. Hester drehte sich um, kniete sich auf ihren Sitz und hielt durch das Heckfenster Ausschau nach irgendwelchen Anzeichen der Polizei, aber das Land hatte sich hinter ihnen geschlossen wie ein Dschungel. Noch zwei Meilen fuhr Jericho langsam weiter. Er fühlte sich ganz ruhig. Sie passierten ein winziges Dorf. Ungefähr eine Meile dahinter war eine kleine Bucht

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