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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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steckte sie in die Öffnung in der vorderen Stoßstange. Du machst das nicht richtig, Junge, hatte sein Stiefvater zu ihm gesagt, auf diese Weise kannst du dir das Handgelenk brechen. Aber wie war es richtig? Im Uhrzeigersinn oder gegen ihn? Er setzte die Kurbel mit Schwung in Bewegung. Sie ging fürchterlich schwer.
    »Ziehen Sie den Choke«, rief er Hester zu, »und wenn der Motor kommt, dann drücken Sie den Fuß auf das dritte Pedal.«
    Der kleine Wagen schaukelte, als sie sich auf den Fahrersitz umsetzte.
    Er machte sich wieder an die Arbeit. Der Waldboden war kaum einen halben Meter von seinem Gesicht entfernt, ein brauner Teppich mit einem durchdringenden Geruch nach verrotteten Blättern und Tannenzapfen. Er wuchtete die Kurbel noch ein paarmal herum, bis seine Schultern schmerzten. Er begann zu schwitzen, der Schweiß vermischte sich mit dem Regenwasser, tropfte von seiner Nasenspitze herab und rann ihm auch in den Nacken. Der Wahnsinn ihrer ganzen Unternehmung schien in diesem Moment zu stecken. Die größte Seeschlacht des Krieges stand bevor, und wo war er? In irgendeinem düsteren Wald inmitten irgendeiner Wüste, wo er über gestohlenen Gestapo-Kryptogrammen brütete, und dazu noch mit einer Frau, die er kaum kannte. Was, in aller Welt, hatten sie sich eigentlich dabei gedacht? Sie mußten - er verstärkte seinen Griff - verrückt sein… Er riß heftig an der Kurbel, und plötzlich sprang der Motor an, spuckte, erstarb fast wieder, doch Hester ließ ihn laut auf Touren kommen - das herrlichste Geräusch, das er je gehört hatte, zerriß die Stille des Waldes. Er warf die Kurbel in den Kofferraum und schlug die Klappe zu.
    Das Getriebe heulte, als er im Rückwärtsgang den Weg zur Straße zurückfuhr.
    Die überhängenden Äste machten aus der durchweichten Straße eine Art Tunnel. Die Scheinwerfer glitzerten auf einem Film aus fließendem Wasser. Jericho fuhr langsam immer wieder dieselbe Strecke ab und versuchte, in der Düsternis irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, versuchte, nicht in Panik zu geraten. Er mußte beim Herauskommen aus der Lichtung falsch abgebogen sein. Das Lenkrad unter seinen Händen fühlte sich so naß und schlüpfrig an wie die Straße. Endlich gelangten sie an eine Kreuzung neben einer riesigen, verrotteten Eiche. Hester senkte den Kopf wieder über die Karte. Eine Strähne ihres langen, schwarzen Haars fiel ihr über die Augen. Sie klemmte eine Haarnadel zwischen die Zähne und murmelte durch sie hindurch: »Rechts oder links?«
    »Sie sind der Lotse.«
    »Und Sie sind auf die Idee gekommen, von der Hauptstraße abzubiegen.« Sie steckte ihr Haar energisch wieder fest.
    »Fahren Sie nach links.«
    Er hätte die andere Richtung eingeschlagen, aber Gott sei Dank tat er es nicht, weil sie recht hatte. Bald wurde die Straße wieder heller. Stellenweise konnten sie den trüben Himmel sehen. Er gab Gas, und als sie aus dem Wald herauskamen und offenes Gelände erreichten, zeigte der Tacho fast vierzig Meilen an. Ein paar Minuten später kamen sie zu einem Dorf, und sie bat ihn, vor dem winzigen Postamt anzuhalten.
    »Weshalb?«
    »Ich muß herausfinden, wo wir sind.«
    »Aber beeilen Sie sich.«
    »Ich habe wirklich nicht die Absicht, eine Besichtigungstour zu unternehmen.«
    Sie schlug die Wagentür zu und rannte durch den Regen, wobei sie den Pfützen mit der Gewandtheit einer Turnerin auswich. Als sie die Tür des Postamts öffnete, läutete drinnen eine Glocke.
    Jericho schaute nach vorn, dann warf er einen Blick in den Rückspiegel. Das Dorf schien nur aus dieser einen Straße zu bestehen. Nirgendwo waren geparkte Fahrzeuge zu sehen, und niemand war unterwegs. Er vermutete, daß ein Privatwagen, insbesondere einer, der von einem Fremden gesteuert wurde, eine Seltenheit war, ein Gesprächsthema. Er konnte sich schon jetzt vorstellen, wie in den roten Ziegelhäuschen und den Fachwerkhäusern die Vorhänge einen Spaltbreit geöffnet wurden. Er stellte die Scheibenwischer ab und ließ sich tiefer in seinen Sitz sinken. Zum zwanzigsten Mal wanderte seine Hand zu dem Packen Kryptogrammen in der Innentasche seines Mantels.
    Zwei Englands, dachte er. Ein England - dieses hier - vertraut, sicher, nach außen offen. Aber jetzt gab es noch ein anderes, ein geheimes England, versteckt auf dem Gelände großer Herrenhäuser - Beaumanor, Gayhurst, Woburn, Adstock, Bletchley -, ein England der Antennenanlagen und Peilvorrichtungen, der ratternden Bomben und bald auch der flakkernden grünen

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