Enigma
und orangefarbenen Röhren der Turing- Maschinen (»das sollte die Berechnungen hundert - , vielleicht sogar tausendmal schneller machen…«) In den Parks der alten Zeit erwachte eine neue Zeit zum Leben. Was hatte Hardy in seiner Apology geschrieben? »Die wahre Mathematik hat keinerlei Einfluß auf Kriege. Noch nie hat jemand irgendeinen kriegerischen Zweck entdeckt, den die Zahlentheorie erfüllen könnte…« Der alte Knabe hatte nicht annähernd eine Ahnung gehabt, was noch alles geschehen würde.
Die Glocke läutete abermals, und Hester kam aus dem Postamt, wobei sie sich eine Zeitung über den Kopf hielt wie einen Regenschirm. Sie öffnete die Wagentür, schüttelte die Zeitung ab und warf sie ihm nicht gerade sanft in den Schoß.
»Was soll das?« Es war der Leicester Mercury, ein kleines Lokalblatt; die Nachmittagsausgabe.
»Die bringen doch gewöhnlich Aufrufe zur Mithilfe, oder etwa nicht? Von der Polizei. Wenn jemand vermißt wird.«
Es war eine gute Idee, das mußte er zugeben. Aber obwohl sie die Zeitung sorgfältig durchsahen - sogar zweimal -, konnten sie weder ein Foto von Claire noch eine Erwähnung der Suche nach ihr finden.
Sie schlugen den Weg nach Süden ein, Richtung Heimat. Eine andere Route für die Rückfahrt, weiter östlich - das war Hesters Plan -, und um sie beide aufzumuntern, zitierte sie gelegentlich die Namen der Dörfer und verfolgte sie auf der Karte, während sie durch die leeren Hauptstraßen ratterten. Oadby, sagte sie (»sehen Sie die Kirche? Frühenglisch, bereits in den Perpendikularstil übergehend«), Kibworth Harcourt, Little Bowden und dann über die Grenze von Leicestershire nach Northamptonshire. Der Himmel über den fernen, blassen Bergen hellte sich von Schwarz zu Grau auf und schließlich zu einer Art glänzendem Weiß. Der Regen ließ nach, dann hörte er ganz auf. Oxendon, Kelmarsh, Maidwell… Kantige normannische Türme mit Schießscharten, reetgedeckte Lokale, winzige viktorianische Bahnhöfe, in eine idyllische Landschaft mit hohen Hecken und dichten Wäldchen geschmiegt, bei deren Anblick man am liebsten There´ll Always Be an England angestimmt hätte, nur daß keinem von beiden nach Singen zumute war.
Weshalb war sie davongelaufen? Das war es, was Hester, wie sie sagte, nicht verstehen konnte. Alles andere schien ziemlich logisch: wie sie sich zunächst die Kryptogramme verschafft hatte, weshalb ihr daran gelegen gewesen war, sie lesen zu können, weshalb sie einen Komplizen gebraucht hatte. Aber weshalb hatte sie dann genau das getan, was unfehlbar die Aufmerksamkeit auf sie lenken mußte? Weshalb war sie nicht zur Morgenschicht erschienen?
»Wissen Sie«, sagte sie zu Jericho, nachdem sie ein paar Meilen lang darüber nachgedacht hatte. In ihrer Stimme lag ein vorwurfsvoller Ton. »Ich glaube, es liegt an Ihnen.«
Wie ein Vertreter der Anklage ging sie mit ihm noch einmal die Ereignisse der Samstagnacht durch. Er war zum Häuschen gefahren, ja? Er hatte die Funksprüche entdeckt, ja? Ein Mann war unten aufgetaucht, ja?
»Ja.«
»Hat er Sie gesehen?«
»Nein.«
»Haben Sie etwas gesagt?«
»Möglich, daß ich ›Wer ist da?‹ oder etwas Ähnliches gerufen habe.«
»Also hätte er Ihre Stimme erkennen können?«
»Das ist möglich.«
Aber das würde bedeuten, daß ich ihn kenne, dachte er.
Oder zumindest, daß er mich kennt.
»Wann sind Sie wieder abgefahren?«
»Ich weiß es nicht genau. Gegen halb zwei.«
»Da haben wir´s«, sagte sie. »Sie sind schuld. Claife kehrt ins Häuschen zurück, nachdem Sie weg sind. Sie stellt fest, daß die Funksprüche verschwunden sind. Ihr wird klar, daß Sie sie haben müssen, weil dieser mysteriöse Mann ihr erzählt hat, daß Sie da waren. Sie glaubt, daß Sie damit schnu rstracks zur Polizei gehen werden. Sie gerät in Panik. Sie läuft davon…«
»Aber das ist doch Unsinn.« Er wandte den Blick von der Straße und sah sie an. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, sie zu verraten.«
»Das sagen Sie. Aber hat Claire das gewußt?«
Hatte sie das gewußt? Nein, dachte er, seine Aufmerksamkeit wieder dem Lenkrad zuwendend, nein, das hatte sie nicht gewußt. Im Gegenteil, in Anbetracht seines Verhaltens an dem Abend, an dem sie den Scheck gefunden hatte, konnte sie davon ausgehen, daß er in Sicherheitsfragen ein Fanatiker war - in der Schlußfolgerung steckte eine gewisse Ironie, wenn man bedachte, daß er jetzt elf gestohlene Kryptogramme in der Tasche seines Mantels hatte. Ein zwanzig Jahre
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