Enigma
alter Bus mit einer Außentreppe zum Oberdeck, der aussah, als stammte er aus einem Verkehrsmuseum, wich auf das grasbewachsene Bankett aus, damit sie ihn überholen konnten. Als sie vorbeifuhren, winkten ihnen die darin sitzenden Schulkinder begeistert zu.
»Wer waren ihre Freunde? Mit wem außer mir hat sie sich getroffen?«
»Sie würden es nicht wissen wollen. Glauben Sie mir.« Es lag Genugtuung in der Art, wie sie ihm die Worte an den Kopf warf, die er ihr gegenüber in der Kirche gebraucht hatte. Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen.
»Nun reden Sie schon, Hester.« Er umklammerte das Lenkrad und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der Bus war fast aus ihrem Blickfeld verschwunden. Dahinter tauchte ein Wagen auf. »Sie brauchen mich nicht zu schonen. Aber um die Sache zu vereinfachen, können Sie sich auf Männer vom Park beschränken.«
Nun, es waren eher Eindrücke als Namen, sagte sie. Claire hatte nie Namen erwähnt.
Dann geben Sie mir die Eindrücke. Das tat sie.
Der erste, dem Hester begegnete, war jung gewesen - rötliches Haar, glatt rasiert -, sie hatte ihn eines Morgens Anfang November mit den Schuhen in der Hand auf der Treppe getroffen.
Rötliches Haar, glatt rasiert, wiederholte Jericho. Das sagte ihm nichts.
Eine Woche später war sie mit dem Rad an einem Oberst vorbeigefahren, der in einem Stabswagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern vor ihrem Häuschen wartete. Und dann war da ein Flieger namens Ivo Soundso, der immer von Bruchlandungen und Kisten und Luftkämpfen redete und den Claire mit Begeisterung nachgemacht hatte. Der hatte zu Baracke 6 oder 3 gehört. Sie war ziemlich sicher, daß es 3 gewesen war. Dann war da ein Evelyn mit einem Doppelnamen gewesen, den Claire während der Luftangriffe in London kennengelernt hatte und der jetzt im Herrenhaus arbeitete. Dann war da ein älterer Mann, von dem Hester annahm, daß er etwas mit der Marine zu tun hatte. Und schließlich war da ein Amerikaner gewesen; der gehörte eindeutig zur Marine.
»Das dürfte Kramer sein«, sagte Jericho.
»Sie kennen ihn?«
»Er ist der Mann, der mir den Wagen geliehen hat. Wann war er an der Reihe?«
»Vor ungefähr einem Monat. Aber ich hatte den Eindruck, daß er nur ein Freund war. Ein Beschaffer von Camel-Zigaretten und Nylonstrümpfen. Nichts Besonderes.«
»Und vor Kramer kam ich.«
»Über Sie hat sie nie gesprochen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Das können Sie auch - in Anbetracht der Art, wie sie über die anderen gesprochen hat.«
»Sonst noch jemand?«
Sie zögerte. »Es kann sein, daß im vorigen Monat jemand Neues aufgetaucht ist. Auf alle Fälle war sie sehr oft fort. Und einmal, vor ungefähr vierzehn Tagen, hatte ich Migräne und kam früher von der Arbeit nach Hause, und mir war, als hörte ich eine Männerstimme in ihrem Zimmer. Aber wenn da wirklich jemand war, dann verstummten sie, sobald sie mich auf der Treppe hörten.«
»Das sind also acht, wenn ich richtig gezählt habe. Mich eingeschlossen. Und ohne die, die Sie vergessen haben oder von denen Sie nichts wissen.«
»Es tut mir leid, Tom.«
»Schon gut.« Er schaffte es, sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln zu verziehen. »Eigentlich sind es sogar weniger, als ich gedacht habe.« Er log natürlich, und er vermutete, daß sie das wußte. »Ich frage mich nur, weshalb ich sie dafür nicht hasse.«
»Weil das nun einmal ihre Art ist«, sagte Hester mit plötzlicher Heftigkeit. »Schließlich hat sie nie ein großes Geheimnis daraus gemacht, oder? Und wenn jemand sie dafür haßt, daß sie so ist, wie sie ist - dann kann dieser Jemand sie nicht allzusehr geliebt haben, oder?« Ihr Hals hatte eine tiefrosa Färbung angenommen. »Wenn jemand nichts anderes als ein Abbild von sich selbst will, dann soll er einen Spiegel nehmen.«
Sie lehnte sich zurück, von ihrem Ausbruch offenbar ebenso überrascht wie er.
Er prüfte die Straße hinter ihnen im Rückspiegel. Immer noch leer, bis auf denselben einsamen Wagen. Wie lange war es her, seit er ihn das erste Mal bemerkt hatte? Ungefähr zehn Minuten? Aber wenn er es recht bedachte, war er vermutlich schon wesentlich länger hinter ihnen, bestimmt schon, bevor sie den Schulbus überholt hatten. Er lag ungefähr hundert Meter zurück - niedrig und breit und dunkel, mit dem Bauch dicht über der Erde wie eine Schabe. Er drückte den Fuß fester aufs Gaspedal und war erleichtert zu sehen, wie der Abstand zwischen ihnen größer wurde, bis endlich die Straße
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