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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Gefühl das ist? Zusehen zu müssen, wie das Schiff neben Ihnen in die Luft fliegt? Nicht anhalten dürfen, um nach Überlebenden zu suchen? Warten, bis Sie selbst an die Reihe kommen?« Er berührte seine Narbe, dann schien ihm bewußt zu werden, was er tat, und er ließ die Hand wieder sinken. Es lag eine erschreckende Resignation in dieser Geste. »Und jetzt werden allem Anschein nach Meldungen von U-Booten aufgefangen, die SC-122 umschwärmen.«
    Sein Telefon läutete, und er wendete sich ab, um den Anruf entgegenzunehmen. Während er ihm den Rücken zukehrte, stellte Jericho stumm die halbleere Flasche Scotch auf seinen Tisch, dann ging er hinaus in die Nacht.
    Sein von Benzedrin und Scotch angetriebenes Denken schien sich selbständig gemacht zu haben, ratterte vor sich hin wie die Bomben in Baracke 11, stellte bizarre und völlig willkürliche Verbindungen her - Claire und Hester und Skynner, Wigram mit seinem Schulterholster, die Reifenspuren im Rauhreif vor Claires Haus und das brennende Liberty-Schiff, das sich über den Leichen der halben Besatzung im Kreise drehte.
    Er blieb am See stehen, um etwas frische Luft zu schöpfen, und dachte an all die anderen Male, bei denen er hier in der Dunkelheit gestanden und die schwache Silhouette des Herrenhauses vor dem Sternenhimmel betrachtet hatte. Er schloß halb die Augen und sah es vor sich, wie es vor dem Krieg gewesen sein mochte. Ein Hochsommerabend. Die Klänge eines Orchesters und Stimmengewirr, das über den Rasen hallte. Eine Kette mit rosa, violetten und gelben Lampions, die im Arboretum schaukelten. Kronleuchter im Ballsaal. Weißes Kristall, das sich in der glatten Oberfläche des Sees spiegelte.
    Die Vision war so lebhaft, daß er bei der Vorstellung von Sommerhitze in seinem Mantel zu schwitzen begann, und als er die Anhöhe zum Herrenhaus hinaufstieg, glaubte er eine Reihe von silberfarbenen Rolls-Royces zu sehen, deren Chauffeure an ihren langen Kühlerhauben lehnten. Aber als er näher kam, sah er, daß es nur Busse waren, die die nächste Schicht abgeladen hatten und die vorhergehende aufnehmen sollten, und die Musik im Haus war lediglich das Läuten von Telefonen und das Geklapper eiliger Schritte auf dem Steinboden.
    Im Labyrinth des Hauses nickte er vorsichtshalber den paar Leuten zu, denen er begegnete - ein älterer Mann in einem dunkelgrauen Anzug, ein Armeehauptmann, eine Air-Force- Helferin. Sie wirkten schäbig in der spärlichen Beleuchtung, und ihre Mienen legten die Vermutung nahe, daß er selbst ziemlich merkwürdig aussah. Benzedrin konnte, wie er sich zu erinnern glaubte, eine seltsame Wirkung auf die Pupillen haben, und er hatte sich seit mehr als vierzig Stunden nicht rasiert oder die Kleidung gewechselt. Aber in Bletchley war noch nie jemand hinausgeworfen worden, nur weil er merkwürdig aussah - sonst wäre der Ort von Anfang an leer gewesen. Da war der alte Duly Knox, der in seinem Schlafrock zur Arbeit zu kommen pflegte, und Turing, der mit einer Gasmaske angeradelt kam, weil er hoffte, damit seinen Heuschnupfen kurieren zu können, und der Kryptoanalytiker aus der japanischen Abteilung, der einmal mittags nackt im See gebadet hatte. Im Vergleich dazu war Jericho so konventionell wie ein Buchhalter.
    Er öffnete die Tür zum Kellergang. Die Birne war seit seinem letzten Besuch durchgebrannt, und vor ihm lag eine Du nkelheit, die so kalt und schwarz war wie in einer Katakombe. Irgend etwas schimmerte schwach am Fuße der Treppe, und er ertastete sich seinen Weg die Stufen hinab. Es war das Schlüsselloch zum Schwarzen Museum, das mit Leuchtfarbe angestrichen war: ein Trick, den sie während der Bombenangriffe gelernt hatten.
    Innerhalb des Raums funktionierte das Licht. Er schloß den Tresor auf und legte das Codebuch hinein, und einen Augenblick lang ging ihm der verrückte Gedanke durch den Kopf, auch die gestohlenen Kryptogramme darin zu deponieren. In einen Umschlag gesteckt, konnten sie monatelang unentdeckt bleiben. Aber wann würde er wieder Gelegenheit haben, in diesen Raum zu kommen? Und eines Tages würden sie entdeckt werden. Und dann bedurfte es nur eines Anrufs in Beaumanor, und alles käme ans Licht - was er getan hatte und Hester…
    Nein, nein.
    Er schloß die Stahltür.
    Trotzdem konnte er sich nicht überwinden, den Raum zu verlassen. Ein so großer Teil seines Lebens lag hier. Er berührte den Tresor und dann die rauhen, trockenen Mauern. Er fuhr mit dem Finger durch den Staub auf dem Tisch. Er betrachtete

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