Enigma
Mitternacht, genau wie im Film… Vermutlich hat er vorgehabt zurückzukommen und auch die Kleidungsstücke zu holen, aber irgend etwas hat ihn daran gehindert. Vielleicht waren die nächsten beiden Turteltauben aufgekreuzt.« Er ließ das Licht wieder über den See wandern. »Zwanzig Meter tief. Verdammter Mist. Wir müssen ein U-Boot hinunterschicken, wenn wir sie da unten finden wollen.«
»Darf ich jetzt gehen?« fragte Hester. Bisher war sie sehr ruhig und gefaßt gewesen, aber jetzt kamen ihr die Tränen, und sie atmete schwer.
Wigram richtete den Lichtstrahl auf ihr nasses Gesicht.
»Nein«, sagte er bedauernd. »Tut mir leid, aber das können Sie nicht.«
Jericho stöpselte die Chiffriermaschine so schnell um, wie seine tauben Finger es erlaubten.
Enigma-Einstellungen für den deutschen Heeresschlüssel Vulture am 6. Februar 1943: I V III DMR EY JL AK NV FZ CT HP MX BQ GS Die letzten vier Kryptogramme waren hoffnungslos, eine Katastrophe, das reinste Chaos. Er hatte schon zuviel Zeit mit ihnen vergeudet. Er würde von neuem beginnen, diesmal mit der ersten Meldung. E zu Y, J zu L… Und wenn das auch nicht funktionierte? Gar nicht erst daran denken. A zu K, N zu V… Er hob den Deckel, löste die Welle, schob die Walzen herunter. Aus dem großen Haus über seinem Kopf kam kein Geräusch. Er war zu sehr vertieft, um auch nur Schritte zu hören. Er fragte sich, was sie da oben taten. Suchten sie nach ihm? Vermutlich. Und wenn sie Logie weckten, würde es nicht lange dauern, bis sie ihn gefunden hatten. Er steckte die Walzen auf - die erste, die fünfte, die dritte - und stellte sie auf DMR ein.
Er spürte sofort, daß er diesmal Erfolg haben würde. Erst C und X, die Nullen waren, und dann A, N, O, K, H…
An OKH.
An OKH. Oberkommando des Heeres. Ein Wunder.
Seine Finger hämmerten auf die Tasten. Die Lichter blinkten auf.
WFST…
Wehrmachtführungsstab.
Dringend! Melde Auffindung zahlreicher menschlicher Überreste zwölf Kilometer westlich Smolensk…
Hester zusammen mit Wigram in dem Wagen eingeschlossen. Leveret hielt draußen Wache.
Jericho. Er verhörte sie über Jericho. Was tat er? Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen?
»Er hat die Baracke verlassen. Er ist nicht in seinem Quartier. Er ist nicht in Ihrem Haus. Ich frage Sie - wo sonst in diesem verdammten Nest könnte er stecken?«
Sie sagte nichts.
Er versuchte, sie anzuschreien, hämmerte mit der Faust auf den Sitz, und als auch das nicht funktionierte, gab er ihr sein Taschentuch und versuchte es mit Mitgefühl, aber der Duft des Kölnisch Wassers in der Seide und die Erinnerung an die blonden Haare an dem Ziegelstein bewirkten, daß sie das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, und er mußte sein Fenster herunterkurbeln und Leveret anweisen, ihre Tür zu öffnen.
»Sie haben das Boot gefunden, Sir«, sagte Leveret. »Blut auf dem Boden.«
Kurz vor drei Uhr hatte Jericho die erste Meldung dechiffriert: An okw/wfst. Dringend. Melde Auffindung zahlreicher menschlicher Überreste zwölf Kilometer westlich Smolensk. Vermutlich Tausende. Erbitte Anweisungen. Lachmann Oberst Feldpolizei.
Jericho lehnte sich zurück und dachte über dieses Wunder nach. Nun ja, Herr Oberst, und welche Anweisungen haben Sie erhalten? Ich kann es kaum abwarten, das zu erfahren.
Wieder begann er mit der mühsamen Arbeit des Einstöpselns und der Einstellung der Walzen. Die nächste Meldung war drei Tage später, am 9. Februar, aus Smolensk gesendet worden. A, N, O, K, W, W, F, S, T… Abermals die üblichen Formalitäten der deutschen Wehrmacht. Dann eine Null und dann G, E, S, T, E, R, N, U, N, D, H, E, U, T, E…
Gestern und heute…
Und so weiter, Buchstabe um Buchstabe, unausweichlich, unerbittlich - drücken, klick, Lämpchen, notieren -, nur gelegentlich innehaltend, um seine Finger zu massieren und seinen Rücken zu strecken. Die ganze grauenhafte Geschichte wurde noch gräßlicher durch die Langsamkeit, mit der er sie entziffern mußte.
Gestern und heute im Wald nordwestlich Dnjepr auf Areal von ca. zweihundert Quadratmetern vorläufige Exhumierungen vorgenommen. Mit Jungfichten bepflanztes Erdreich bis einskommafünf Meter Tiefe abgetragen. Fünf Lagen Leichen. Oberste Schicht mumifiziert. Unterste stark verwest. Zwanzig Leichen geborgen. Todesursache Genickschuss, Hände mit Draht gefesselt. Mund mit Lappen und Sägemehl geknebelt. Uniformstücke Stiefel und militärische Auszeichnungen deuten auf polnische Offiziere.
Wegen Frost und
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