Enigma
Marmor.
Hester Wallace lehnte ihr Fahrrad an die niedrige Ziegelsteinmauer und ließ den Blick über die Szenerie schweifen. Nun ja, so ist nun einmal das Leben, dachte sie, daran gibt es nichts zu deuteln; so ist die Natur, die einfach weiterexistiert. Aus dem Kircheninnern drang das Brausen der Orgel. O Gott, Du Helfer in der Not… Sie summte leise mit, während sie ihre Handschuhe anzog und ein paar lose Haare unter die Krempe ihres Hutes stopfte. Dann straffte sie die Schultern und schritt über die Steinplatten auf das Portal zu.
Die Wahrheit war, daß, wenn sie nicht dafür gesorgt hätte, es nicht einmal einen Gedächtnisgottesdienst gegeben hätte. Sie war es gewesen, die den Vikar dazu überredet hatte, die Türen von St. Mary in Bletchley zu öffnen, obwohl sie zugeben mußte, daß »die Dahingeschiedene«, wie der Vikar sich ausdrückte, keine Gläubige gewesen war. Sie war es gewesen, die den Organisten engagiert und ihm gesagt hatte, was er spielen sollte (Bachs Präludium und Fuge in E-Dur für den Einzug der Trauergäste und das Sanctus aus Faures Requiem für ihren Auszug). Sie war es gewesen, die die Hymnen und die Bibeltexte ausgesucht hatte und die Karten für den Gottesdienst drucken ließ, sie war es, die die Kirche mit Frühlingsblumen geschmückt, die Ankündigung geschrieben und sie überall im Park ausgehängt hatte (»Am Freitag, dem 16. April, findet um 10 Uhr ein kurzer Gedächtnisgottesdienst statt…«), und die Nacht zuvor hatte sie wach gelegen und sich Sorgen gemacht, daß vielleicht niemand kommen würde.
Aber sie kamen alle.
Leutnant Kramer kam in seiner amerikanischen Marineuniform, der alte Doktor Weitzman von der Wache in Baracke 3 war da, ebenso Miss Monk und die Mädchen aus dem German Book Room und die Leiter der Luftwaffenkartei und der Heereskartei, etliche ziemlich dämlich dreinschauende junge Männer mit schwarzen Krawatten und viele andere, deren Namen Hester nicht kannte, die aber offensichtlich eine gewisse Rolle im Leben der Toten während ihres sechsmonatigen Aufenthalts in Bletchley Park gespielt hatten, im Leben von Claire Alexandra Romilly, geboren am 21. Dezember 1922, gestorben (den Vermutungen der Polizei zufolge) am 14. März 1943. Sie ruhe in Frieden.
Hester ließ sich in der vordersten Bank nieder, mit ihrer Bibel und einem Lesezeichen an der Stelle, die sie vortragen wollte (1. Korinther 15.51-55: »Siehe, ich sage euch ein Geheimnis…«), und jedesmal, wenn jemand hereinkam, drehte sie den Kopf, um zu sehen, ob er es war, nur um dann enttäuscht den Blick wieder abzuwenden.
»Wir sollten wirklich anfangen«, sagte der Vikar mit einem ungeduldigen Blick auf die Uhr. »Um halb elf habe ich eine Taufe.«
»Nur noch eine Minute, Herr Pfarrer, seien Sie so gut. Geduld ist eine christliche Tugend.«
Der Duft von Madonnen-Lilien lag über dem Kirchenschiff - blütenweiße Lilien mit fleischigen grünen Stielen, weiße Tulpen, blaue Anemonen…
Es war lange her, seit sie Tom Jericho zuletzt gesehen hatte. Sie hatte nur Wigrams Wort, daß er noch am Leben war, und Wigram wollte nicht einmal verraten, in welchem Krankenhaus er lag, geschweige denn ihr erlauben, ihn zu besuchen. Aber er hatte sich bereit erklärt, ihm eine Einladung zu dem Gottesdienst zu übermitteln, und am folgenden Tag hatte er verkündet, daß die Antwort ja lautete, Jericho würde gern kommen. »Aber dem armen Kerl geht es immer noch ziemlich schlecht, also würde ich an Ihrer Stelle nicht allzu fest damit rechnen.« Jericho würde bald abreisen, sagte Wigram, einen langen Erholungsurlaub antreten. Hester hatte die Art, wie er das sagte, gar nicht gefallen; es hatte sich angehört, als wäre Jericho irgendwie Eigentum des Staates geworden.
Fünf nach zehn wußte der Organist nicht mehr, was er spielen sollte, und es gab eine peinliche Pause mit Füßescharren und Gehuste. Eines der Mädchen aus dem German Book Room begann zu kichern, bis Miss Monk sie laut zurechtwies, still zu sein.
»Hymne Nummer 477«, sagte der Vikar mit einem Blick auf Hester. »Der Tag, den Du uns gabst, o Herr, hat nun geendet.«
Die Gemeinde erhob sich. Der Organist schlug ein zittriges D an. Sie begannen zu singen. Von irgendwo ziemlich weit hinten konnte sie Weitzmans klangvollen Tenor hören. Erst als sie bei der fünften Strophe angekommen waren (»So sei es, Herr; Dein Thron wird nie vergehen wie die stolzen Reiche der Welt«), hörte Hester das Scharren der Tür hinter sich. Sie drehte sich um,
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