Enigma
England durch.
1940 verging ohne Nachrichten über Pukowskis Vater - und ebenso wenig erfuhr man über die anderen 10 000 vermißten polnischen Offiziere. 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen in Rußland, wurde Stalin unerwartet unser Verbündeter. Zu gegebener Zeit wurden wir, wie es sich gehörte, wegen der vermißten Polen vorstellig. Daraufhin wurde uns, gleichfalls, wie es sich gehörte, versichert, es gäbe keine derartigen Gefangenen in sowjetischer Hand; alle, die sich vielleicht einmal dort befunden hatten, waren vor langer Zeit freigelassen worden.
»Also«, sagte Wigram, »um die lange Geschichte ein Stück abzukürzen, es sieht so aus, als wären seit Ende letzten Jahres unter den Exilpolen in London Gerüchte kursiert, daß diese Offiziere erschossen und in einem Wald in der Nähe von Smolensk verscharrt worden wären. Sagen Sie, ist es heiß hier drinnen, oder bin nur ich ins Schwitzen geraten?« Er stand auf und versuchte, das Fenster zu öffnen. Als es ihm nicht gelang, kehrte er zu seinem Platz am Ende des Bettes zurück. Er lächelte. »Sagen Sie, waren Sie es, der Pukowski mit Claire bekanntmachte?«
Jericho schüttelte den Kopf.
»Das ist wohl auch belanglos«, seufzte Wigram. »Einen Teil der Geschichte werden wir nie erfahren. Wir wissen nicht, wie sie sich kennengelernt haben und wann oder weshalb sie sich bereit erklärte, ihm zu helfen. Nicht einmal, was genau sie ihm gezeigt hat. Aber ich denke, wir können erraten, was passiert sein muß. Sie machte Kopien von diesen Meldungen aus Smolensk und schmuggelte sie in ihrem Schlüpfer oder sonstwie hinaus. Versteckte sie unter den Fußbodendielen. Dort holte der Liebhaber sie ab. So mag es ein oder zwei Wochen lang gegangen sein. Bis der Tag kam, an dem Pukowski sah, daß einer der Toten sein eigener Vater war. Und dann, am nächsten Tag, konnte Claire ihm nichts anderes bringen als die unentschlüsselten Kryptogramme, weil jemand« - Wigram schüttelte verwundert den Kopf -, »jemand in einer ganz, ganz hohen Position, wie ich inzwischen erfahren habe, beschlossen hatte, daß wir es einfach nicht wissen wollten.«
Er streckte plötzlich die Hand aus, ergriff einen von Jerichos ausgelesenen Kriminalromanen, blätterte darin und legte ihn wieder zurück.
»Wissen Sie, Tom«, sagte er nachdenklich, »in der Weltgeschichte hat es so etwas wie Bletchley Park noch nie gegeben. Nie zuvor hat eine Seite so viel über den Feind gewußt. Ich glaube, manchmal kann man auch zuviel wissen. Erinnern Sie sich an die Bombardierung von Coventry? Unser geliebter Premierminister erfuhr durch Enigma ungefähr vier Stunden im voraus, was passieren würde. Und wissen Sie, was er getan hat?«
Wieder schüttelte Jericho den Kopf.
»Er sagte seinem Stab, daß ein Angriff auf London bevorstünde, und sie sollten die Schutzräume aufsuchen, aber er ginge hinauf, um sich das anzusehen. Dann stieg er auf das Dach des Luftfahrtministeriums und verbrachte eine Stunde in der Kälte, um auf einen Angriff zu warten, von dem er wußte, daß er anderswo stattfinden würde. Er zog seine Schau ab, verstehen Sie? Um das Enigma-Geheimnis zu wahren. Oder ein anderes Beispiel: Nehmen Sie die U-Boot-Tanker. Dank Shark wissen wir, wo sie sich befinden, und wenn wir sie versenkten, könnten wir Hunderte von Leben der Alliierten retten - auf kurze Sicht. Aber wir würden Enigma gefährden, denn wenn wir das täten, wüßte Dönitz, daß wir seine Codes knakken können. Sie verstehen, worauf ich hinauswill? Also hat Stalin zehntausend Polen umgebracht? Ich bitte Sie… Onkel Josef ist bei uns ein Held. Er gewinnt für uns den verdammten Krieg. Nach Churchill und dem König der populärste Mann im Lande. Wie heißt dieses hebräische Sprichwort? ›Der Feind meines Feindes ist mein Freund‹? Nun, Stalin ist der größte Feind, den Hitler hat, also ist er, soweit es uns angeht, ein verdammt guter Freund von uns. Ein Massaker in Katyn? Ein fürchterliches Massaker? Besten Dank, aber davon wollen wir nicht hören.«
»Ich glaube nicht, daß Puck das auch so gesehen hätte.«
»Nein, das hätte er wohl nicht. Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich glaube, er hat uns sogar ein wenig gehaßt. Schließlich hätten wir, wenn die Polen nicht gewesen wären, nicht einmal in Enigma eindringen können. Aber die Leute, die er wirklich haßte, waren die Russen. Und er war willens, alles zu tun, um Rache zu nehmen. Selbst wenn das bedeutete, daß er den Deutschen half.«
»Der Feind meines Feindes
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