Enigma
Jericho wirkte sie nicht sonderlich reizend. Sie hatte ein mageres, von einer Adlernase beherrschtes Gesicht, und ihr Haar war straff nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden.
»Ich bin Tom Jericho.«
Sie reagierte nicht.
»Vielleicht hat Claire einmal meinen Namen erwähnt.«
»Ich werde ihr sagen, daß Sie da waren.«
»Kommt sie bald zurück?«
»Ich habe keine Ahnung. Tut mir leid.«
Sie machte die Tür wieder zu. Jericho stemmte seinen Fuß dagegen. »Hören Sie, ich weiß, es ist fürchterlich unhöflich von mir, aber könnte ich nicht hereinkommen und auf sie warten?«
Die Frau warf einen Blick auf seinen Fuß und dann auf sein Gesicht. »Das ist leider unmöglich. Guten Abend, Mister Jericho.« Sie drückte die Tür mit erstaunlicher Kraft zu.
Jericho trat einen Schritt zurück auf den Weg. Dies war ein Umstand, den er in seinem Plan nicht bedacht hatte. Er hob sein Fahrrad auf und schob es in Richtung Straße, aber im letzten Moment bog er, anstatt auf die Straße zurückzukehren, nach links ab und folgte der Hecke. Er legte sein Fahrrad flach auf den Boden und zog sich in den Schatten zurück, um zu warten.
Nach etwa zehn Minuten wurde die Tür des Hauses geöffnet und wieder geschlossen, und er hörte das Klappern eines Fahrrads, das über Stein geschoben wurde. Es war, wie er gedacht hatte: Miss Wallace war zum Ausgehen angezogen, weil sie Nachtschicht hatte. Ein gelber Lichtpunkt von der Größe eines Stecknadelkopfes erschien, schwankte kurz von einer Seite zur anderen und hüpfte dann auf ihn zu. Hester Wallace fuhr, keine sechs Meter entfernt, im Mondlicht an ihm vorüber, mit wippenden Knien und vorgestreckten Ellenbogen, so kantig wie ein alter Regenschirm. Bevor sie auf die Straße abbog, hielt sie an und bückte sich, um ihr Rücklicht zurechtzurücken. Jericho preßte sich noch tiefer in den Weißdorn. Eine halbe Minute später war sie verschwunden. Er wartete eine volle Viertelstunde, für den Fall, daß sie etwas vergessen hatte, dann kehrte er zu ihrem Haus zurück.
Es gab nur einen Schlüssel - aus Schmiedeeisen und groß genug für eine Kathedrale. Er erinnerte sich, daß er immer unter einer Schieferplatte lag, auf der ein Blumentopf stand. Die Tür hatte sich von der Feuchtigkeit verzogen, und er mußte heftig schieben, bis sie aufging und dabei einen Bogen in den Steinfußboden kratzte. Er legte den Schlüssel wieder an seinen Platz und machte die Tür hinter sich zu, bevor er das Licht einschaltete.
Er war nur einmal hier drinnen gewesen, aber es gab nicht viel, woran man sich erinnern mußte: Zwei Zimmer im Erdgeschoß; ein Wohnzimmer mit niedrigen Deckenbalken und eine Küche direkt geradeaus. Links führte eine schmale Treppe hinauf zu einem kleinen Flur. Claires Schlafzimmer lag nach vorn hinaus, zur Straße hin. Das von Hester war das hintere. Die Toilette war ein chemisches Klosett unmittelbar außerhalb der Hintertür, zu der man durch die Küche gelangte. Ein Badezimmer gab es nicht. In einem Schuppen neben der Küche stand eine verzinkte Wanne. Gebadet wurde vor dem Ofen. Der ganze Bau war kalt und eng und roch nach Schimmel. Er fragte sich, wie Claire es hier aushalten konnte.
»Ach, Darling, das ist doch viel besser als ein Zimmer, wo einem eine widerliche Wirtin ständig sagt, was man zu tun und zu lassen hat…«
Jericho tat ein paar Schritte auf dem abgetretenen Teppich, dann blieb er stehen. Zum erstenmal war ihm unbehaglich zumute. Überall, wo er hinschaute, sah er Beweise für ein Leben, das völlig zufrieden ohne ihn geführt wurde - das zusammengewürfelte blau-weiße Porzellan im Schrank, die Vase mit Narzissen, der Zeitschriftenstapel mit Vorkriegsnummern der Vogue, sogar die Anordnung der Möbel (die beiden Sessel und das Sofa waren der Behaglichkeit wegen an den Kamin geschoben). Jedes winzige häusliche Detail erschien ihm bezeichnend und durchdacht.
Er hatte hier nichts zu schaffen.
In diesem Moment wäre er fast gegangen. Alles, was ihn zurückhielt, war die etwas erbärmliche Erkenntnis, daß er nicht wußte, wo er sonst hingehen sollte. Bletchley Park? Albion Street? King´s College? Es sah so aus, als wäre sein Leben ein Labyrinth aus Sackgassen geworden.
Besser, es hier durchzustehen, beschloß er, als wieder davonzulaufen. Es war damit zu rechnen, daß sie bald zurückkam.
Aber es herrschte eine lausige Kälte. Seine Knochen waren eiskalt. Er wanderte in dem vollgestellten Zimmer herum, geduckt, um sich nicht an den niedrigen
Weitere Kostenlose Bücher