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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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eine Zigarette aus der Handtasche nimmt und sie anzündet, wie sie ihn mit leicht zur Seite geneigtem Kopf beobachtet. Aster, tasso, lovage, landau… Es ist das erste und einzige Mal in ihrer Beziehung, daß er alles in der Hand hat, und als er die letzten zwanzig Fragen gelöst und ihr die Zeitung zurückgegeben hat, fahren sie durch die Außenbezirke einer kleinen Stadt, kriechen an schmalen Gärten und hohen Schornsteinen vorbei. Hinter ihrem Kopf sieht er die vertrauten Leinen voller Wäsche, die Luftschutzbunker, die Gemüsebeete, die kleinen roten, von den vorbeifahrenden Zügen geschwärzten Häuser. Im Abteil wird es dunkel, als sie unter dem Eisendach des Bahnhofs einfahren. »Bletchley!« ruft der Schaffner. »Bletchley!«
    Er sagt: »Hier muß ich leider aussteigen.«
    »Ja…« Sie betrachtet nachdenklich das fertige Kreuzworträtsel, dann dreht sie sich um und lächelt ihn an.
    »Ja. Wissen Sie, das hatte ich mir beinahe gedacht.«
    »Mister Jericho!« ruft jemand. »Mister Jericho!«
     
    »Mister Jericho!«
    Er öffnete die Augen. Einen Augenblick lang wußte er nicht, wo er sich befand. Über ihm ragte in dem schwachen Licht der Kleiderschrank auf.
    »Ja.« Er setzte sich in dem fremden Bett auf. »Tut mir leid. Mrs. Armstrong?«
    »Mr. Jericho, es ist Viertel nach sechs!« Sie rief von der halben Treppe aus zu ihm hoch. »Wollen Sie Abendessen?« Viertel nach sechs? Im Zimmer war es fast dunkel. Er holte seine Taschenuhr unter dem Kissen hervor und klappte den Deckel auf. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, daß er fast den ganzen Tag geschlafen hatte.
    »Das wäre sehr nett, Mrs. Armstrong. Danke.«
    Der Traum war verstörend lebhaft gewesen - auf jeden Fall lebendiger als dieses dämmrige Zimmer -, und als er die Dekken zurückschlug und seine nackten Füße auf den kalten Boden schwang, war ihm, als befände er sich in einem Niemandsland zwischen zwei Welten. Er war auf seltsame Weise überzeugt, daß Claire an ihn gedacht und sein Unterbewußtsein wie ein Radio reagiert und eine Botschaft von ihr aufgefangen hatte. Das war ein absurder Gedanke für einen Mathematiker, einen rational denkenden Menschen, aber er konnte ihn nicht loswerden. Er fand seinen Kulturbeutel und zog den Mantel über den Schlafanzug.
    Im ersten Stock kam eine Gestalt in einem blauen Flanellmorgenrock und mit Lockenwicklern aus weißem Papier aus dem Badezimmer. Er nickte höflich, aber die Frau gab ein verlegenes Quieken von sich und lief eilends den Korridor hinunter. Vor dem Waschbecken packte er seine Toilettenartikel aus: einen Rest Karbolseife, einen Sicherheitsrasierer mit einer sechs Monate alten Klinge, eine hölzerne Zahnbürste, abgenutzt bis auf einen kleinen Borstenrest, eine fast leere Dose mit rosa Zahnpulver. Die Wasserhähne rasselten. Es kam kein warmes Wasser. Er kratzte zehn Minuten auf seinem Kinn herum, bis es rot und stellenweise blutig war. Hier war es, wo der Teufel des Krieges wohnte: in den Details, in den tausend kleinen Demütigungen, die der ständige Mangel an Toilettenpapier, Seife, Streichhölzern oder sauberer Kleidung mit sich brachte. Die Zivilisten waren verelendet. Sie stanken, und das war die reine Wahrheit. Körpergeruch lag über den Britischen Inseln wie ein dichter, saurer Nebel.
    Unten im Eßzimmer saßen zwei weitere Gäste, eine Miss Jobey und ein Mister Bonnyman, und während sie auf das Essen warteten, unterhielt er sich leise mit den beiden. Miss Jobey trug ein schwarzes Kleid mit einer Kameenbrosche am Hals. Bonnyman trug einen schimmelfarbenen Tweedanzug und hatte eine Reihe Stifte in der Brusttasche. Jericho dachte, daß er vielleicht einer der an den Bomben arbeitenden Ingenieure war. Die Tür zur Küche schwang auf, und Mrs. Armstrong brachte ihre Teller herein.
    »Jetzt geht´s los«, flüsterte Bonnyman. »Machen Sie sich auf etwas gefaßt, alter Junge.«
    »Verderben Sie´s nicht schon wieder mit ihr, Arthur«, sagte Miss Jobey. Sie kniff ihn spielerisch in den Arm, woraufhin Bonnymans Hand unter dem Tisch verschwand und ihr Knie tätschelte. Jericho goß allen Wasser ein und tat so, als bemerke er es nicht.
    »Es gibt Kartoffelauflauf«, verkündete Mrs. Armstrong herausfordernd.
    Sie betrachteten ihre dampfenden Teller.
    »Wie überaus - äh - sättigend«, sagte Jericho schließlich. Die Mahlzeit wurde schweigend eingenommen. Der Nachtisch war eine Art Apfelkompott mit synthetischem Pudding.
    Sobald er verspeist war, zündete Bonnyman seine Pfeife an und

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