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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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entschuldigt sich mit einem Lächeln.
    Das Konzert ist besser, als er gehofft hatte. Das Quintett besteht aus Leuten, die in Bletchley Park arbeiten und früher alle Berufsmusiker waren. Der Mann am Spinett ist besonders gut. Die Frauen im Publikum tragen Abendkleider, die Männer Anzüge. Pötzlich, und zum erstenmal, soweit er sich erinnern kann, ist der Krieg ganz weit weg. Als die letzten Töne des dritten Kanons (per Motum contrarium) verklingen, riskiert er einen Blick auf Claire, nur um festzustellen, daß sie ihn anschaut. Sie berührt seinen Arm, und als der vierte Kanon (per Augmentationem, contrario Motu) beginnt, ist er verloren.
    Hinterher muß er sofort in die Baracke zurückkehren; er hat versprochen, vor Mitternacht wieder dazusein. Armer Mr. Jericho, sagt sie, genau wie Aschenbrödel… Aber auf ihren Vorschlag hin treffen sie sich auch beim Konzert in der Woche darauf - Chopin - , und als es vorüber ist, gehen sie den Abhang hinunter zum Bahnhof, um im Restaurant auf dem Bahnsteig einen Kakao zu trinken.
    »Also«, sagt sie, als er mit zwei Bechern voll braunem Schaum von der Theke zurückkehrt, »wieviel darf ich über Sie wissen?«
    »Über mich? Oh, ich bin ziemlich langweilig.«
    »Ich finde, Sie sind überhaupt nicht langweilig. Ich habe sogar Gerüchte gehört, daß Sie ziemlich genial sind.«
    Sie zündet sich eine Zigarette an, und wieder fällt ihm ihre unverwechselbare Art des Inhalierens auf, sie scheint den Rauch fast zu verschlucken, dann legt sie den Kopf in den Nacken und stößt ihn durch die Nasenlöcher wieder aus. Ob das irgendeine neue Mode ist? fragt er sich.
    »Ich nehme an, Sie sind verheiratet?« sagt sie.
    Er verschluckt sich beinahe an seinem Kakao. »Guter Gott, nein. Ich wäre wohl kaum…«
    »Verlobte? Freundin?«
    »Jetzt wollen Sie mich auf den Arm nehmen.« Er zieht ein Taschentuch hervor und betupft sich das Kinn.
    »Brüder? Schwestern?«
    »Nein, nein.«
    »Eltern? Sogar Sie müssen Eltern haben.«
    »Nur ein Elternteil ist noch am Leben.«
    »Mir geht es genauso«, sagt sie. »Meine Mutter ist tot.«
    »Wie furchtbar für Sie. Tut mir leid. Meine Mutter ist für meinen Geschmack manchmal zu lebendig.«
    Und so geht es weiter, dieses bislang unausgekostete Vergnügen, über sich selbst zu reden. Ihre grauen Augen verlassen nie sein Gesicht. Die Züge dampfen in der Dunkelheit vo rbei, hinterlassen einen Sog aus Ruß und heißer Luft. Gäste kommen und gehen. »Wen kümmert das Leben ohne Licht?« fragt ein Sänger im Radio in der Ecke, den Mond können sie nicht verdunkeln…« Er stellt fest, daß er ihr Dinge erzählt, über die er zuvor nie wirklich gesprochen hat - vom Tod seines Vaters und der Wiederverheiratung seiner Mutter, von seinem Stiefvater (einem Geschäftsmann, den er nicht ausstehen kann), von seiner Neigung zur Astronomie und dann zur Mathematik…
    »Und Ihre jetzige Arbeit?« sagt sie. »Macht die Sie glücklich?«
    »Glücklich?« Er wärmt sich die Hände am Becher und überdenkt ihre Frage. »Nein. Glücklich würde ich nicht sagen. Sie verlangt viel von einem - in gewisser Hinsicht ist sie sogar beängstigend.«
    »Beängstigend?« Ihre großen Augen werden noch größer.
    »Wieso beängstigend?«
    »Wer weiß, was noch passieren kann…« (Du spielst dich auf, warnt er sich, hör auf damit.) »Was passieren kann, wenn man etwas falsch macht, nehme ich an.«
    Sie zündet sich eine weitere Zigarette an. »Sie sind doch in Baracke 8? Und Baracke 8 ist die Marineabteilung, oder nicht?«
    Das läßt ihn zusammenfahren. Er sieht sich rasch um. Ein weiteres Pärchen sitzt händchenhaltend und miteinander flüsternd am Nebentisch. Vier Flieger spielen Karten. Eine Kellnerin mit einer fettigen Schürze poliert den Tresen. Niemand scheint etwas gehört zu haben.
    »Apropos«, sagt er rasch, »ich glaube, ich muß mich jetzt wieder an die Arbeit machen.«
    An der Ecke von Church Green Road und Wilton Avenue küßt sie ihn flüchtig auf die Wange.
    Die Woche darauf ist es Schumann, gefolgt von Steak - und - Nieren - Pastete und Marmeladenrolle im British Restaurant in der Bletchley Road (»zwei Gänge für elf Pence«), und diesmal ist sie an der Reihe zu erzählen. Ihre Mutter ist gestorben, als sie sechs Jahre alt war, sagt sie, und ihr Vater hat sie von Botschaft zu Botschaft mitgeschleppt. Familie war gleichbedeutend mit einer Folge von Kindermädchen und Gouvernanten.
    Wenigstens hat sie ein paar Sprachen gelernt. Sie wollte in den Women´s Royal

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