Enigma
verkündete, da es Samstagabend sei, würden er und Miss Jobey dem Eight Bells Inn in der Buckingham Road einen Besuch abstatten. »Sie können gern mitkommen«, sagte er in einem Ton, der andeutete, daß Jericho keineswegs willkommen wäre. »Oder haben Sie andere Pläne?«
»Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe tatsächlich andere Pläne. Oder, besser gesagt, einen Plan.«
Nachdem die anderen gegangen waren, half er Mrs. Armstrong beim Abräumen des Tisches, dann ging er hinaus auf den Hinterhof, um sein Fahrrad zu überprüfen. Inzwischen war es fast völlig dunkel, und in der Luft lag eine Schärfe, die Frost ankündigte. Das Licht funktionierte noch. Er säuberte die Ventile und pumpte etwas mehr Luft in die Reifen.
Um acht Uhr war er wieder oben in seinem Zimmer. Um halb elf war Mrs. Armstrong im Begriff, ihr Strickzeug beiseite zu legen und ins Bett zu gehen, als sie ihn herunterkommen hörte. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Jericho den Flur entlangeilte und in die Nacht hinaus ging.
2.
Der Mond widersetzte sich der Verdunkelung und ließ sein blaues Taschenlampenlicht auf die gefrorenen Felder fallen, durchaus hell genug für einen Mann auf einem Fahrrad. Jericho hob sich aus dem Sattel, trat kraftvoll in die Pedale und schwankte von einer Seite zur anderen, als er die Anhöhe außerhalb von Bletchley hinaufstrampelte und seinen eigenen Schatten verfolgte, der scharf umrissen vor ihm auf die Straße geworfen wurde. Von irgendwo in der Ferne kam das Dröhnen eines heimkehrenden Bombers.
Die Straße wurde eben, und er setzte sich wieder auf den Sattel. Trotz aller Anstrengungen mit der Luftpumpe waren die Reifen nach wie vor halb platt, und die Räder und die Kette waren eingerostet, weil das Öl fehlte. Das Treten war schwer, aber das machte Jericho nichts aus. Er unternahm etwas, das war das Entscheidende. Es war dasselbe wie das Knacken eines Codes. Ganz gleich, wie hoffnungslos die Situation war, die Regel lautete immer: Unternimm etwas. Kein Kryptogramm, pflegte Alan Turing zu sagen, ist je durch bloßes Anstarren entschlüsselt worden.
Er radelte ungefähr zwei Meilen auf der Strecke, die sanft ansteigend nach Shenley Brook End führte. Es war kaum ein Dorf, eher ein winziger Weiler mit vielleicht einem Dutzend Häusern, in denen überwiegend Farmarbeiter wohnten. Er konnte die Gebäude nicht sehen, da sie in einer kleinen Senke lagen, aber als er um eine Kurve fuhr und Holzrauch roch, wußte er, daß es nicht mehr weit sein konnte.
Unmittelbar vor dem Weiler war auf der linken Seite in der Weißdornhecke eine Lücke und dahinter ein ausgefahrener Weg, der zu einem kleinen, für sich allein stehenden Häuschen führte. Er bog auf diesen Weg ein und bremste schlitternd ab. Seine Füße glitten auf dem gefrorenen Schlamm aus. Eine unwahrscheinlich große Schleiereule erhob sich von einem nahen Ast und flatterte lautlos über das Feld. Jericho betrachtete das Haus genau. War es nur Einbildung, oder entdeckte er tatsächlich eine Andeutung von Licht am Fenster im Erdgeschoß? Er stieg ab und schob sein Fahrrad darauf zu.
Ihm war wunderbar gelassen zumute. Über dem Reetdach funkelten die Sternbilder wie die Lichter einer Großstadt - Kleiner Bär und Polarstern, Pegasus und Kepheus, das abgeflachte M von Kassiopeia, durch das die Milchstraße floß. Kein irdisches Licht konnte ihr Strahlen beeinträchtigen. Ein Gutes hat die Verdunkelung, dachte er, sie hat uns die Sterne zurückgegeben.
Die Tür bestand aus schwerer, mit Eisen beschlagener Eiche.
Es war, als klopfte man auf Stein. Nach einer halben Minute versuchte er es noch einmal. »Claire?« rief er. »Claire?« Eine Pause, und dann: »Wer ist da?« »Ich bin´s, Tom.«
Er holte tief Luft und wappnete sich, wie für einen Schlag.
Der Türknauf drehte sich, und die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet, gerade so weit, daß eine dunkelhaarige Frau in den Dreißigern sichtbar wurde, ungefähr von Jerichos Größe. Sie trug eine Brille mit runden Gläsern und einen dicken Mantel und hielt ein Gebetbuch in der Hand.
»Ja?«
Einen Moment war er sprachlos. »Tut mir leid«, sagte er, »ich wollte zu Claire…«
»Sie ist nicht da.«
»Nicht da?« wiederholte er enttäuscht. Jetzt fiel ihm wieder ein, daß Claire mit einer Frau namens Hester Wallace zusammen wohnte (»sie arbeitet in Baracke 6, sie ist reizend«), aber aus irgendeinem Grund hatte er ihre Existenz völlig vergessen. Auf
Weitere Kostenlose Bücher