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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Türen zugeschlagen, eine Pfeife schrillt, sie rucken vorwärts. Auf dem Bahnsteig das verwischte Bild von winkenden Menschen.
    Er ist so eingekeilt, daß er sich kaum rühren kann. Eine derartige Intimität wäre vor dem Krieg nie geduldet worden, aber jetzt, auf diesen endlosen, unbequemen Reisen, werden Männer und Frauen immer zusammengeworfen, oft buchstäblich. Ihr Schenkel ist gegen seinen gepreßt, so stark, daß er die Festigkeit der Muskeln und Knochen unter dem Fleischpolster spüren kann. Ihre Schulter liegt an seiner. Ihre Beine berühren sich. Ihre Strümpfe rascheln an seiner Wade. Er kann ihre Wärme spüren und ihr Parfüm riechen.
    Er sieht an ihr vorbei und tut so, als schaute er aus dem Fenster auf die vorbeigleitenden häßlichen Häuser. Sie ist viel jünger, als er zuerst gedacht hat. Im Profil ist ihr Gesicht nicht eigentlich hübsch, aber bemerkenswert - kantig, stark - , »ansehnlich« wäre vielleicht das richtige Wort. Sie hat sehr blondes Haar, hinten zusammengebunden. Als er versucht, sich zu bewegen, berührt sein Ellenbogen die Seite ihrer Brust, und ihm ist, als müßte er vor Verlegenheit sterben. Er entschuldigt sich wortreich, aber sie scheint es nicht zur Kenntnis zu nehmen. Sie hat ein Exemplar der Times klein zusammengefaltet in der Hand.
    Das Abteil ist brechend voll. Soldaten liegen auf dem Boden und verstopfen den Gang. Ein Unteroffizier der Royal Air Force ist auf der Kofferablage eingeschlafen und hält seinen Tornister in den Armen wie eine Geliebte. Jemand beginnt zu schnarchen. Die Luft riecht stark nach billigen Zigaretten und ungewaschenen Körpern. Aber all dies beginnt für Jericho allmählich zu verschwinden. Es sind nur noch sie beide da, mit dem Zug ruckelnd. Wo sie sich berühren, brennt seine Haut. Seine Wadenmuskeln schmerzen von der Anstrengung, ihr weder zu nahe zu kommen noch von ihr abzurücken.
    Erfragt sich, wie weit sie fährt. Jedesmal, wenn sie an einem der kleinen Bahnhöfe anhalten, fürchtet er, sie könnte aussteigen. Aber nein: Sie starrt weiterhin auf ihr Quadrat aus bedrucktem Papier. Das triste Hinterland Nord - Londons weicht einer tristen Landschaft, farblos in der anbrechenden Dämmerung eines Dezembernachmittags. Viehlose Felder, kahle Bäume und die unscharfen, dunklen Linien von Hecken. Leere Straßen, kleine Dörfer mit rauchenden Schornsteinen, die sich von der Landschaft abheben wie Rußplacken.
    Eine Stunde vergeht. Sie haben Leighton Buzzard hinter sich, und fünf Minuten vor Bletchley sagt sie plötzlich: »Deutsche Stadt, teilweise in französischem Widerspruch zu Hameln.«
    Er ist nicht sicher, ob er richtig gehört hat, nicht einmal, ob die Bemerkung an ihn gerichtet ist.
    »Wie bitte?«
    »Deutsche Stadt, teilweise in französischem Widerspruch zu Hameln.« Sie wiederholt es, als wäre er beschränkt. »Sieben senkrecht. Acht Buchstaben.«
    »Ah ja«, sagt er. »Ratisbon.«
    »Wie kommen Sie darauf? Ich glaube nicht, daß ich das Wort schon einmal gehört habe.« Sie wendet ihm ihr Gesicht zu. Er bekommt einen ungefähren Eindruck von ihren Zügen - eine scharfgeschnittene Nase, ein breiter Mund - , aber es sind ihre Augen, die ihn faszinieren. Graue Augen - ein kaltes Grau ohne den geringsten Anfing von Blau. Sie sind nicht taubengrau, entscheidet er später, und auch nicht perlgrau. Es ist das Grau von Schneewolken, kurz bevor sie sich entladen.
    »Das ist der englische Name von Regensburg, das im Mittelalter Ratisbona hieß. Ich glaube, an der Donau gelegen. Teilweise auf französisch - nun, offensichtlich bon. Im Widerspruch zu Hameln. Das ist leicht. Hameln - Rattenfänger - Ratten, auf englisch rats. Rat is bon. Ratte ist gut. Der Ansicht ist man nicht in Hameln.«
    Er fängt an zu lachen, dann zwingt er sich zum Aufhören. Hör dich doch nur an, du quasselst wie ein Idiot.
    »Mit zehn auffüllen. Neun Buchstaben.«
    »Das ist ein Anagramm«, sagt er unverzüglich. »Plentiful.«
    »Morgenimbiß so weit es geht.«
    »Ambit.«
    Sie schüttelt den Kopf, trägt die Antworten ein. »Wie kommen Sie so schnell darauf?«
    »Das ist nicht weiter schwierig. Man lernt, auf welche Weise sie denken. Morgen - das ist a. m., ante meridiem. Imbiß - das Wort ›bite‹, Bissen, ohne das e. So weit es geht - nun ja, innerhalb des eigenen Ambitus, der eigenen Grenzen. Darf ich?«
    Er langt hinüber und nimmt Papier und Bleistift. Die Hälfte seines Gehirns beschäftigt sich mit dem Kreuzworträtsel, die andere Hälfte mit ihr - wie sie

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