Enigma
Navy Service eintreten, aber ihr alter Herr ließ es nicht zu.
Jericho fragt, wie es in London während der Bombenangriffe gewesen ist.
»Oh, im Grunde haben wir viel Spaß gehabt. Es gab massenhaft Orte, wo wir hingehen konnten. Das Milroy. Das Four Hundred. Eine Art verzweifelter Fröhlichkeit. Wir mußten alle lernen, nur für den Augenblick zu leben.«
Als sie sich trennen, küßt sie ihn wieder, ihre Lippen ruhen auf der einen Wange, ihre kühle Hand liegt auf der anderen.
In der Rückschau ist es ungefähr um diese Zeit, Mitte Januar, wo er hätte anfangen müssen, über seine Symptome Buch zu führen, denn jetzt beginnt er sein seelisches Gleichgewicht zu verlieren. Er wacht mit einem Gefühl milder Euphorie auf. Er stürmt pfeifend in die Baracke. Er macht zwischen den Schichten lange Spaziergänge um den See herum, nimmt Brot mit, um die Enten zu füttern - nur der Bewegung halber, redet er sich ein, aber in Wirklichkeit sucht er unter den Leuten nach ihr, und zweimal sieht er sie, und einmal sieht sie ihn und winkt.
Bei ihrem vierten Zusammentreffen (dem fünften, wenn man ihre Begegnung im Zug mitrechnet) besteht sie darauf, daß sie einmal etwas anderes tun, also gehen sie ins Kino an der High Street, um sich den neuen Noel - Coward - Film In Which We Serve anzusehen.
»Und Sie wollen mir wirklich weismachen, Sie wären noch nie hier gewesen?«
Sie stehen für Karten an. Der Film läuft erst seit einem Tag, und die Schlange reicht um die Ecke herum bis in die Aylesbury Street.
»Nein, ehrlich, ich war noch nie hier.«
»Großer Gott, Tom, Sie sind wirklich ein komischer Kauz. Ich glaube, ich würde sterben, wenn ich hier in Bletchley festsäße und nicht ins Kino gehen könnte.«
Sie sitzen ziemlich weit hinten, und sie schiebt ihren Arm unter seinen. Das Licht des Projektors hoch über und hinter ihnen erzeugt in dem Staub und Zigarettenrauch ein Kaleidoskop aus Blau- und Grautönen. Das Pärchen neben ihnen küßt sich. Eine Frau kichert. Ein Trompetenstoß kündigt die Wochenschau an, und auf der Leinwand sind lange Kolonnen von gefangenen Deutschen zu sehen, eine unvorstellbare Menge. Sie stapfen durch den Schnee, während der Sprecher aufgeregt von einem Durchbruch der Roten Armee an der Ostfront berichtet. Stalin taucht auf und verleiht unter lautem Applaus Medaillen. Jemand ruft: »Ein dreifaches Hurra für Onkel Joe!« Die Lichter gehen an, dann verlöschen sie wieder, und Claire drückt seinen Arm. Der Hauptfilm beginnt - »Dies ist die Geschichte eines Schiffes« - mit Coward als unwahrscheinlich liebenswürdigem Kapitän der Royal Navy. Es folgt eine Menge Aufregung, in knappem Ton. »Schiff in Brand mit grüner Flagge drei - null… Torpedospur steuerbord, Sir… Feuer aufrechterhalten…« Auf dem Höhepunkt der Seeschlacht läßt Jericho den Blick vom Aufflackern der Zelluloidexplosionen auf die hingerissenen Gesichter wandern, und ihm wird bewußt, daß auch er ein Teil von alledem ist - ein unauffälliger, aber wichtiger Teil - , und daß niemand es weiß oder je wissen wird… Nach dem Abspann spielt der Lautsprecher »God Save the King«, und alle stehen auf. Viele Zuschauer sind so bewegt von dem Film, daß sie mitsingen.
Sie haben ihre Fahrräder am Ende einer neben dem Kino verlaufenden Gasse abgestellt. Ein paar Schritte entfernt sehen sie eine merkwürdige Gestalt, die sich an der Mauer reibt. Als sie näher kommen, erkennen sie, daß es ein Soldat ist, der seinen Mantel um eine Frau geschlungen hat. Ihr Rücken lehnt an der Mauer. Ihr weißes Gesicht starrt sie aus den Schatten heraus an wie ein Tier in seinem Bau. Die Bewegung hört so lange auf, wie Claire und Jericho brauchen, um ihre Räder zu holen; dann beginnt sie von neuem.
»Sehr merkwürdiges Benehmen.«
Er sagt es, ohne nachzudenken. Zu seiner Überraschung bricht Claire in Gelächter aus.
»Was ist los?«
»Nichts«, sagt sie.
Sie stehen neben ihren Fahrrädern auf dem Gehsteig und warten, bis ein Armeelaster sie passiert hat, der mit abgeblendeten Scheinwerfern und knirschendem Getriebe in Richtung Norden die Watling Street entlangrattert. Sie hört auf zu lachen.
»Kommen Sie mit in mein Häuschen, Tom.« Sie sagt es fast traurig. »So spät ist es noch nicht. Ich möchte es Ihnen so gern zeigen.«
Er kann sich keine Ausrede ausdenken, will es im Grunde auch nicht.
Sie führt ihn durch die Stadt und an Bletchley Park vorbei, über den Stadtrand hinaus. Sie schweigen eine Viertelstunde, und er
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