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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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wie ein Automat.
    Er machte das Bett, hob den Teppich herunter, strich das Oberbett glatt und warf die Spitzendecke darüber, die sich darauflegte wie ein Netz. Dann setzte er sich auf die Bettkante und ließ den Blick über das Zimmer schweifen. Nicht schlecht. Natürlich, wenn sie anfing, nach etwas zu suchen, würde sie wissen, daß jemand in ihren Sachen herumgewühlt hatte, aber auf den ersten Blick sah alles aus wie zuvor - das heißt, abgesehen von dem Loch im Fußboden. Er wußte noch nicht, was er damit anfangen sollte. Das hing davon ab, ob er die aufgefangenen Funksprüche wieder zurücklegte oder nicht. Er zog sie unter dem Bett hervor und betrachtete sie noch einmal.
    Es waren vier, auf Standardblättern, zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter groß. Er hielt einen davon gegen das Licht. Es war billiges Kriegspapier von der Art, wie es in Bletchley tonnenweise verbraucht wurde. In seiner groben Struktur konnte er praktisch einen versteinerten Wald sehen - die Schatten von Blättern und Blattstengeln, die schwachen Umrisse von Borke und Farn.
    In der oberen linken Ecke jedes Funkspruchs stand die Frequenz, auf der er gesendet worden war - 12260 Kilohertz - , und in der rechten oberen Ecke sein »TOI« - Time of Interception. Die vier Funksprüche waren am 4. März, also erst vor neun Tagen, in schneller Folge im Abstand von 25 Minuten gesendet worden, zwischen 21.30 Uhr bis kurz vor Mitternacht. Jeder bestand aus einem Rufzeichen - ADU - und ungefähr zweihundert Gruppen aus jeweils fünf Buchstaben. Schon das war ein wichtiger Hinweis. Das bedeutete, daß es sich nicht um Marinefunksprüche handeln konnte, denn die Funksprüche der Kriegsmarine wurden in Gruppen von vier Buchstaben gesendet. Also stammten sie vermutlich vom deutschen Heer oder der Luftwaffe.
    Sie mußte sie aus Baracke 3 gestohlen haben.
    Die Ungeheuerlichkeit dieser Schlußfolgerung versetzte Jericho einen neuerlichen Schlag, traf ihn wie ein Hieb in die Magengrube. Er ordnete die aufgefangenen Funksprüche in der richtigen zeitlichen Reihenfolge auf ihrem Kopfkissen und versuchte angestrengt, wie ein mit der Verteidigung beauftragter Kronanwalt, sich irgendeine harmlose Erklärung einfallen zu lassen. Ein alberner Streich? Möglich. Sie hatte nie viel von Sicherheitsvorkehrungen gehalten - im Bahnhofsrestaurant lautstark über Baracke 8 geredet, wissen wollen, was er tat, versucht, ihm zu sagen, was sie tat. Eine Herausforderung? Auch möglich. Sie war zu allem fähig. Aber dieses Loch im Fußboden, diese kalte Vorsätzlichkeit, zog seinen Blick an und ließ ihn an seiner Milde ihr gegenüber zweifeln.
    Ein Geräusch aus dem Erdgeschoß, vielleicht von Schritten, riß ihn aus seiner Versunkenheit und ließ ihn aufspringen.
    Er sagte »Hallo« mit einer lauten Stimme, die mutiger klang, als er sich fühlte. Er räusperte sich. »Hallo?« wiederholte er. Und dann hörte er ein weiteres Geräusch, eindeutig einen Schritt, jetzt eindeutig draußen, und ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn. Er ging rasch zur Schlafzimmertür und schaltete das Licht aus, so daß die einzige Beleuchtung im ganzen Haus aus dem Wohnzimmer kam. Falls jemand die Treppe heraufkommen sollte, wäre er imstande, seine Silhouette zu sehen. Aber nichts passierte. Vielleicht versuchte jemand, durch die Hintertür hereinzukommen? Er fühlte sich fürchterlich ausgeliefert. Er bewegte sich vorsichtig die Treppe hinunter und zuckte bei jedem Knarren zusammen. Ein Schwall kalter Luft traf ihn.
    Die Haustür stand weit offen.
    Er sprang die letzten sechs Stufen hinunter und rannte nach draußen, gerade noch rechtzeitig, um das Rücklicht eines Fahrrads zu sehen, das den Pfad entlangschoß und auf der Straße verschwand. Er machte sich an die Verfolgung, aber nach zwanzig Schritten gab er es auf. Zu Fuß hatte er nicht die geringste Chance, den Flüchtigen einzuholen.
    Es herrschte starker Frost. Wohin man schaute, funkelte die Erde in einem matten, leuchtenden Blau. Die Äste der kahlen Bäume zeichneten sich vor dem Himmel ab wie Blutgefäße. In dem glitzernden Rauhreif waren deutlich zwei Reifenspuren zu sehen: eine, die zum Haus hinführte, und eine andere, die davon wegführte. Er verfolgte sie zurück bis zur Haustür, wo sie in scharf umrissenen Fußabdrücken endeten.
    Scharf umrissen, groß - die Fußabdrücke eines Mannes. Jericho betrachtete sie eine halbe Minute lang, wobei er in seinen Hemdsärmeln zitterte. In dem nahegelegenen Wäldchen schrie eine Eule, und

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