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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Jericho kam es vor, als hätte der Schrei den Rhythmus eines Morsezeichens: di-di-di-dah, di-didi-dah.
    Er eilte ins Haus zurück.
    Oben rollte er die aufgefangenen Funksprüche ganz fest zu einem Zylinder zusammen. Er benutzte seine Zähne, um ein kleines Loch in das Futter seines Mantels zu reißen, und schob die Papiere hinein. Dann schraubte er rasch das Stück Fußbodenbrett wieder fest und legte den Teppich an seinen Platz. Er zog Jackett und Mantel an, schaltete das Licht aus, legte den Schlüssel wieder an seinen Platz.
    Sein Fahrrad hinterließ eine dritte Spur im Rauhreif.
    An der Einmündung zur Straße hielt er an und warf einen Blick zurück auf das düstere Haus. Er hatte stark das Gefühl - albern, sagte er zu sich selbst -, daß er beobachtet wurde. Er schaute sich um. Eine Bö fuhr in die Bäume; in der Weißdornhecke neben ihm klirrten und klimperten die Eiszapfen.
    Jericho zitterte vor Kälte, stieg auf sein Fahrrad und lenkte es hügelabwärts, in Richtung Süden, auf Orion und Prokyon zu und auf Hydra, die über Bletchley Park am Nachthimmel hing wie ein Messer.

IV Kuss
    Kuss: die Übereinstimmung von zwei verschiedenen Kryptogrammen, die in verschiedenen Chiffren übermittelt wurden, aber beide den gleichen, ursprünglichen Klartext enthalten, so daß die Entschlüsselung des einen zur Entschlüsselung des anderen führt.
     
    Ein Lexikon der Kryptographie
    (»Streng geheim«, Bletchley Park, 1943)

1.
    Er weiß nicht, wovon er aufwacht - ein leises Geräusch, eine Luftbewegung, etwas, das sich in den Tiefen seines Traums festhakt und ihn an die Oberfläche zieht.
    Anfangs kommt ihm sein dunkles Zimmer völlig normal vor - die vertrauten, kohlschwarzen Sparren der Eichenbalken, die glatten, grauen Flächen von Wand und Decke - , aber dann wird ihm bewußt, daß vom Fußende seines Bettes ein schwaches Licht ausgeht.
    »Claire?« sagt er und richtet sich im Bett auf. »Darling?«
    »Alles in Ordnung, Darling, schlaf weiter.«
    »Was in aller Welt tust du da?«
    »Ich sehe mir nur deine Sachen an…«
    »Du siehst dir… was an?«
    Seine Hand tastet auf dem Nachttisch herum und schaltet die Lampe ein. Sein Wararlarm - Wecker zeigt an, daß es halb vier ist.
    »So ist es besser«, sagt sie und schaltet die Verdunkelungstaschenlampe aus. »Dieses Ding ist ohnehin ziemlich nutzlos…«
    Und sie tut genau das, was sie behauptet hat. Sie ist nackt bis auf sein Hemd, sie kniet, und sie durchsucht seine Brieftasche. Sie holt ein paar Ein - Pfund - Noten heraus, dreht die Brieftasche um und schüttelt sie.
    »Keine Fotos«, sagt sie.
    »Du hast mir noch keins gegeben.«
    »Tom Jericho«, sie lächelt und steckt das Geld zurück, »ich muß schon sagen, du wirst allmählich beinahe galant…«
    Sie durchsucht die Taschen seines Jacketts und seiner Hose, dann rutscht sie auf den Knien zu seiner Kommode. Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf, lehnt sich auf dem Eisenbett zurück und beobachtet sie. Es ist erst das zweite Mal, daß sie miteinander geschlafen haben - eine Woche nach dem ersten Mal - , und weil sie darauf bestand, haben sie es nicht in ihrem Haus getan, sondern in seinem Zimmer, sind durch die dunkle Bar des White Hart Inn geschlichen und die knarrende Treppe hoch. Jerichos Zimmer liegt ausreichend entfernt vom restlichen Haushalt, so daß für sie nicht die Gefahr besteht, gehört zu werden. Seine Bücher stehen aufgereiht auf der Kommode, und sie nimmt eines nach dem anderen in die Hand, dreht es mit dem Rücken nach oben und blättert es schnell durch.
    Kommt ihm das irgendwie seltsam vor? Nein, das tut es nicht. Es ist lediglich amüsant, sogar schmeichelnd - eine weitere Intimität, eine Fortführung all des anderen, ein Teil des Wachtraums, zu dem sein Leben sich entwickelt hat, das von Traumregeln bestimmt wird. Außerdem hat er keine Geheimnisse vor ihr - er denkt zumindest, daß er keine hat. Sie findet Turings Abhandlung und schaut sie sich genau an.
    »Und was sind komputierbare Zahlen, angewandt auf das Entscheidungsproblem, wenn sie zutreffen?«
    Ihre Aussprache des deutschen Wortes Entscheidungsproblem ist, wie er überrascht feststellt, makellos.
    »Das ist die Theorie einer Maschine, die zu einer unendlichen Zahl von numerischen Operationen imstande ist. Sie stützt die Annahmen von Hubert und stellt die von Gödel in Frage. Komm wieder ins Bett, Darling.«
    »Aber es ist nur eine Theorie?«
    Er seufzt und klopft auf die Matratze neben sich. Sie schlafen in seinem

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