Enigma
beginnt sich zu fragen, wie weit sie ihn mitschleifen will. Endlich, als sie den Weg hinunterradeln, der zu dem Haus führt, ruft sie über die Schulter: »Ist das nicht ein reizendes Häuschen?«
»Es fällt - äh - ein wenig aus dem Rahmen.«
»Seien Sie nicht so gemein«, sagt sie und tut so, als sei sie beleidigt.
Sie erzählt ihm, wie sie es halb verfallen entdeckt hat, wie sie den Bauern, dem es gehörte, so lange bezirzt hat, bis er bereit war, es an sie zu vermieten. Die Einrichtung ist schäbigelegant. Sie hat die Möbel aus dem Haus einer Tante in Ke nsington gerettet, das während der deutschen Bombenangriffe dichtgemacht und nie wieder geöffnet worden war.
Die Treppe knarrt so beängstigend, daß Jericho sich fragt, ob ihrer beider Gewicht sie aus der Wand reißen könnte. Der Bau ist eine Ruine, eiskalt. »Und hier schlafe ich«, sagt sie, und er folgt ihr in ein Zimmer in Rosa und Creme, vollgestopft wie eine große Ankleidekabine mit Seiden und Pelzen und Federn aus der Vorkriegszeit. Ein loses Fußbodenbrett knallt unter seinen Füßen wie ein Gewehrschuß. Es gibt zu viele Einzelheiten, als daß das Auge sie registrieren könnte, so viele Hutschachteln, Schuhkartons, Schmuckstücke, Make - up - Utensilien… Sie schlüpft aus ihrem Mantel und läßt ihn auf den Boden fallen, dann wirft sie sich der Länge nach aufs Bett, stützt sich auf die Ellenbogen und schleudert die Schuhe weg. Irgend etwas scheint sie zu amüsieren.
»Und was ist das?« Jericho ist ziemlich verwirrt auf den Treppenabsatz zurückgewichen und betrachtet nun die einzige andere Tür.
»Ach, das ist Hesters Zimmer«, ruft sie.
»Hester?«
»Irgendein Bürohengst hat herausgefunden, wo ich wohne, und hat gesagt, wenn ich ein zweites Schlafzimmer hätte, müßte ich noch jemanden aufnehmen. Daraufhin ist Hester zu mir gezogen. Sie arbeitet in Baracke 6. Sie ist wirklich reizend. Werfen Sie einen Blick hinein. Sie hätte nichts dagegen.«
Er klopft an, niemand antwortet, er öffnet die Tür. Ein weiteres winziges Zimmer, aber dieses ist spartanisch eingerichtet wie eine Zelle: ein Metallbett, Krug und Schüssel auf einem Waschtisch, ein paar Bücher auf einem Stuhl. Ableman´s German Primer. Er schlägt das Deutschbuch auf. »Der Rhein ist etwas länger als die Elbe«, liest er. Er hört den Gewehrschuß vom losen Fußbodenbrett hinter sich, und Claire nimmt ihm das Buch aus der Hand.
»Nicht schnüffeln, Darling. Das ist unhöflich. Kommen Sie, wir wollen Feuer machen und etwas trinken.«
Unten kniet er vor dem Kamin nieder und knüllt ein Exemplar der Times zusammen. Er packt Kleinholz und ein paar kleine Scheite darauf und zündet das Papier an. Der Kamin zieht gefräßig, saugt den Rauch mit Getöse an.
»Sie haben ja noch nicht einmal Ihren Mantel ausgezogen.«
Er steht auf, wischt den Staub ab und dreht sich zu ihr um. Grauer Rock, marineblauer Kaschmirpullover, eine einreihige Kette aus milchweißen Perlen an ihrem cremefarbenen Hals - die allgegenwärtige, immer gleiche Uniform der Engländerin aus der oberen Mittelschicht. Irgendwie schafft sie es, gleichzeitig sehr jung und sehr reif auszusehen.
»Kommen Sie, lassen Sie mich das machen.«
Sie stellt die Drinks hin und fängt an, seinen Mantel aufzuknöpfen.
»Machen Sie mir nicht weis, Tom«, flüstert sie, »machen Sie mir nicht weis, daß Sie nicht wissen, was die beiden hinter dem Kino gemacht haben.«
Sogar barfuß war sie genauso groß wie er.
»Natürlich weiß ich es…«
»In London nennen die Mädchen das heutzutage eine ›Mauernummer‹. Wie finden Sie das? Sie behaupten, auf diese Weise könnte man nicht schwanger werden…«
Instinktiv hüllt er sie mit seinem Mantel ein. Sie legt ihm die Arme um die Taille.
3.
Verdammt, verdammt, verdammt.
Er kippte nach vorn und aus dem Sessel heraus, und die Bilder flogen auseinander und zerbarsten auf dem kalten Steinfußboden. Er wanderte etliche Male in dem winzigen Wohnzimmer herum, dann ging er in die Küche. Alles war sauber und ordentlich weggeräumt. Er vermutete, daß das Hesters Werk war, nicht das von Claire. Das Feuer im Herd war heruntergebrannt, und als er ihn anfaßte, war er nur lauwarm, aber er widerstand der Versuchung, Kohle nachzulegen. Es war Viertel vor eins. Wo steckte sie? Er ging zurück ins Wohnzimmer, zögerte am Fuß der Treppe und stieg hinauf. Der Putz an der Wand war feucht und blätterte unter seinen Fingern ab. Er beschloß, zuerst einen Blick in Hesters Zimmer zu
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