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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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über den oberen Korridor wie ein Ruf zu den Waffen: das Zischen von brutzelndem Fett, die ziemlich trostlos klingenden Fetzen eines Gottesdienstes, der im Radio übertragen wurde, das Geräusch von Mrs. Armstrongs abgetragenen Hausschuhen, die auf dem Linoleumboden klapperten wie Kastagnetten.
    Diese Sonntagsfrühstücke waren ein Ritual in der Albion Street, mit angemessener Feierlichkeit auf weißem Gebrauchsgeschirr serviert: eine Scheibe Brot, so dick wie ein Gesangbuch, in Fett getaucht und gebraten, mit Rührei aus zwei Löffeln Eipulver bedeckt, und das Ganze schwimmend auf einem schillernden Fettfilm.
    Es war keineswegs, wie Jericho zugeben mußte, eine großartige Mahlzeit, nicht einmal eine sonderlich nahrhafte. Das Brot hatte die Farbe von Rost, war schwarzfleckig und schmeckte nach den Heringen, die am voraufgegangenen Freitag in demselben Fett angebraten worden waren. Das Rührei war blaßgelb und hatte den Geschmack von altbackenen Keksen. Aber nach der Aufregung der vergangenen Nacht hatte er einen solchen Appetit, daß er alles bis auf den letzten Bissen aufaß, das letzte bißchen Fett mit einem Stück Brot aufwischte und Mrs. Armstrong sogar auf seinem Weg nach draußen ein Kompliment über ihre Kochkünste machte - eine noch nie dagewesene Geste, die sie veranlaßte, zur Küchentür herauszuschauen und in seinem Gesicht nach einem Anflug von Ironie zu suchen. Sie fand keine. Er wünschte Mr. Bonnyman, der sich gerade am Geländer entlang seinen Weg nach unten ertastete (»Mir ist ein bißchen komisch zumute, um ehrlich zu sein, alter Junge - irgend etwas stimmt nicht mit dem Bier in dieser Kneipe«), einen »guten Morgen«, und Viertel vor acht war er wieder in seinem Zimmer.
    Wenn Mrs. Armstrong gesehen hätte, welche Veränderungen hier oben vorgegangen waren, wäre sie verblüfft gewesen. Weit davon entfernt, nach seiner ersten Nacht wieder auszuziehen, wie viele der früheren Bewohner dieses Zimmers, hatte Jericho seine Koffer ausgepackt. Sein einziger guter Anzug hing im Kleiderschrank. Seine Bücher standen ordentlich aufgereiht auf dem Kaminsims, und obenauf hatte er einen Stich von der King´s-College-Chapel gestellt.
    Er setzte sich auf die Bettkante und betrachtete das Bild. Es war keine gute Arbeit, sie war sogar ziemlich häßlich. Die beiden gotischen Türme waren flüchtig gezeichnet, der Himmel war unwahrscheinlich blau, die wie Kleckse hingeworfenen Figuren hätten von einem Kind stammen können. Trotzdem lächelte er es freundlich an. Hinter dem verkratzten Glas und hinter dem billigen viktorianischen Stich lagen, flach und sorgfältig versteckt, die vier unentschlüsselten Funksprüche, die er in Claires Schlafzimmer gefunden hatte.
    Er hätte sie natürlich in den Park zurückbringen müssen. Er hätte direkt von Claires Haus zu den Baracken radeln, Logie oder sonst jemand Maßgeblichen ausfindig machen und sie bei ihm abliefern müssen.
    Selbst jetzt war er nicht imstande, sich über seine Motive klarzuwerden, warum er es nicht getan hatte. Er konnte das Selbstlose (seinen Wunsch, sie zu schützen) nicht vom Selbstsüchtigen (seinem Verlangen, Macht über sie zu haben, nur ein einziges Mal) trennen. Das einzige, was er wußte, war, daß er es nicht übers Herz brachte, sie zu verraten, und daß er imstande war, das zu rechtfertigen, indem er sich einredete, daß es nichts schaden konnte, wenn er bis zum Morgen wartete und ihr eine Chance gab, alles zu erklären.
    Und so war er weitergefahren, am Haupttor vorbei, war auf Zehenspitzen in sein Zimmer geschlichen und hatte die Kryptogramme hinter dem Stich versteckt, wobei er sich immer stärker der Tatsache bewußt geworden war, daß er die Grenze zwischen Torheit und Verrat überschritten hatte und daß es ihm von Stunde zu Stunde schwerer fallen würde, den Weg zurück zu finden.
    Während er auf seinem Bett saß, ging er zum hundertsten Mal sämtliche Möglichkeiten durch. Daß sie verrückt war. Daß sie erpreßt wurde. Daß man ihr Zimmer ohne ihr Wissen als Versteck benutzt hatte. Daß sie eine Spionin war.
    Eine Spionin? Die Idee kam ihm völlig abwegig vor - melodramatisch, bizarr, unlogisch. Weshalb sollte eine Spionin mit einer Spur von Verstand Kryptogramme stehlen? Eine Spionin wäre doch auf entschlüsselte Texte aus: auf die Antworten, nicht auf die Rätsel; auf handfeste Beweise, daß Enigma geknackt wurde.
    Er vergewisserte sich, daß die Tür abgeschlossen war, dann nahm er vorsichtig das Bild herunter und schob

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