Enigma
den Rahmen auseinander, löste die Heftzwecken mit den Fingern und hob die Rückwand aus Pappe ab. Jetzt, bei genauerem Hinsehen, wurde ihm bewußt, daß an diesen Kryptogrammen irgend etwas seltsam war, und als er sie abermals betrachtete, erkannte er, was es war. Auf ihrer Rückseite hätten die dünnen Papierstreifen aus den Typ-X-Maschinen mit dem entschlüsselten Text kleben müssen. Aber es waren weder die Streifen vorhanden, noch gab es Anzeichen dafür, daß diese abgerissen worden waren. Diese Botschaften waren niemals entschlüsselt worden. Ihre Geheimnisse waren intakt. Sie waren jungfräulich.
Nichts davon ergab irgendeinen Sinn.
Er zog einen der Funksprüche zwischen Daumen und Zeigefinger hindurch. Von dem gelblichen Papier ging ein schwacher, aber trotzdem wahrnehmbarer Duft aus. Was war es? Er hob das Papier näher an die Nase und roch daran. Vielleicht der Duft einer Bibliothek oder eines Archivs? Jedenfalls ein angenehmer Duft - warm, fast rauchig -, so verführerisch wie ein Parfüm.
Ihm wurde plötzlich bewußt, daß er, ungeachtet seiner Angst, die Kryptogramme als Schatz betrachtete, so wie mancher Mann den Schnappschuß eines Mädchens als Schatz hütete. Nur, daß sie für Jericho besser waren als jedes Foto, weil Fotos nur Abbilder waren, wohingegen die Kryptogramme ihm Hinweise darauf lieferten, wer sie war. Und wenn er die Funksprüche besaß, besaß er dann in gewisser Hinsicht nicht auch sie?
Er würde ihr nur noch eine Chance geben. Mehr nicht.
Er sah auf die Uhr. Seit dem Frühstück waren zwanzig Minuten vergangen. Es wurde Zeit loszugehen. Er baute sorgfältig den Rahmen wieder zusammen und stellte ihn zurück auf den Kamin, dann öffnete er die Tür einen Spaltbreit. Mrs. Armstrongs Gäste waren alle von der Nachtschicht zurückgekehrt. Er hörte ihr Gemurmel im Eßzimmer. Er zog seinen Mantel an und trat hinaus auf den Korridor. Er bemühte sich dermaßen, einen normalen Eindruck zu machen, daß Mrs. Armstrong später schwor, sie hätte gehört, wie er auf der Treppe leise vor sich hinsang.
»In meiner Zigarette Glut, seh ich dein Lächeln funkeln, auch wenn sie viel zu schnell erlischt, seh ich doch alles, was ich will, denn den Mond können sie nicht verdunkeln…«
Die Entfernung von der Albion Street bis Bletchley Park betrug nur knapp achthundert Meter - von der Haustür aus nach links und die von Reihenhäusern gesäumte Straße entlang, links unter der rußgeschwärzten Eisenbahnbrücke hindurch und dann scharf rechts quer durch die Kleingärten.
Er schritt rasch über den gefrorenen Boden, und sein Atem dampfte in dem kalten Sonnenlicht. Dem Kalender nach war es fast Frühling, aber irgend jemand hatte vergessen, dem Winter das mitzuteilen. Noch nicht geschmolzenes Eis aus der voraufgegangenen Nacht knisterte unter seinen Schuhsohlen. In den Wipfeln der kahlen Ulmen schrien Krähen.
Es war schon nach acht Uhr, als er von dem Fußweg auf die Wilton Avenue einbog und sich dem Haupttor näherte. Der Schichtwechsel war vorüber; die Vorstadtstraße war fast menschenleer. Der Posten - ein junger Unteroffizier von riesiger Statur mit vor Kälte gerötetem Gesicht - kam aus dem Wachhaus herausgestampft und warf nur einen flüchtigen Blick auf seinen Ausweis, bevor er ihn durchwinkte.
Er ging am Herrenhaus vorbei - mit gesenktem Kopf, um mit niemandem sprechen zu müssen -, am See vorbei (der einen Eisrand hatte) und in die Baracke 8 hinein, wo die vom Dechiffrierraum ausgehende Stille ihm alles sagte, was er wissen mußte. Die Maschinen vom Typ X hatten den Rückstand an Shark-Funksprüchen aufgearbeitet, und jetzt gab es für sie nichts mehr zu tun, bis Dolphin und Porpoise durchgegeben wurden, was gewöhnlich am späten Vormittag geschah. Logies große Gestalt tauchte kurz am Ende des Korridors auf und schoß in den Registrierraum. Zu seiner Überraschung saß Puck dort in einer Ecke und wurde von zwei hingerissenen Wrens betrachtet. Sein Gesicht war grau und faltig, den Kopf hatte er an die Wand gelehnt.
Jericho dachte, daß er schliefe, aber dann öffnete er seine durchdringenden blauen Augen.
»Logie sucht nach Ihnen.«
»Tatsächlich?« Jericho legte seinen Mantel und seinen Schal ab und hängte sie an der Tür auf. »Er weiß, wo er mich finden kann.«
»Hier geht das Gerücht, Sie hätten Skynner geschlagen.
Bitte, sagen Sie mir, daß es stimmt.« Eine der Wrens kicherte.
Jericho hatte Skynner völlig vergessen. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Bitte
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