Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
»Vier« scheint mir oft angemessen zu sein. Vier besagt: Ich will nicht jammern, obgleich es mir nicht gut geht. Vier besagt: Das Wohlsein, die Nullmarke sind nicht weit entfernt. Meine Vier geht in die Krankenakte ein. Den grünen Benchmarkfragebogen Version 1.1. Qualitätsmanagement Akutschmerztherapie bekomme ich dagegen ausgehändigt. Er wird später nicht zurückverlangt werden. Theoretisch hätte irgendjemand erfahren können, ob ich wegen der Schmerzen in meiner Mobilität eingeschränkt/nachts aufgewacht/in meiner Stimmung beeinträchtigt war. Und mehr Schmerzmittel brauchte. Theoretisch hätte meine Zufriedenheit mit der Schmerztherapie von sehr zufrieden bis völlig unzufrieden in 15 Abstufungen abgerufen werden können. Jetzt müssen Forschung und Pharma-Industrie ohne meine Vier klarkommen.
Das Bouquet von Schläuchen bewirkt, dass ich mich kaum rühren kann, irgendetwas zerrt immer. Oder ich habe Angst, dass meine Körperflüssigkeiten sich über das Bett verteilen. Gebeutelt und geschlaucht. Aufstehen und waschen ist ohne Hilfe nicht möglich, und meine Haare verfilzen so wie meine Seele.
Nein, es kann einem nicht gut gehen. Ein Krankenhaus ist eben nicht der lichte Ort, wo Menschen behütet, geheilt, getröstet werden. Ich habe nie einen Reparaturbetrieb mit einem bisschen Wellness drumherum erwartet, und ich lache zuhause immer über diese aufgemotzten Werbebroschüren für Privatkliniken mit Wohlfühlgarantie, wo die Seele baumeln darf zur Ying-und-Yang-Musik, ayurvedischer Tee inklusive. Aber muss es einem im 21. Jahrhundert, in einer abgesicherten, fortschrittlichen Wohlstandsgesellschaft mit einem milliardenteuren Gesundheitssystem so lächerlich schlecht gehen?
Umfragen zu Patientenzufriedenheit ergeben immer wieder dasselbe: Man beklagt sich an erster Stelle über das Essen, an zweiter über die Hygiene.
Mein Zimmer ist geräumig und karg: ein Bett, Kommode, Besuchertisch und -stühle, Fernseher, eine kleine Dusche. Geputzt wird in atemberaubender Geschwindigkeit. Fünf bis sieben Minuten, dann sind Boden und Flächen oberflächlich gewischt, der Mülleimer geleert, die Reinigungsfrau verschwunden. Husch-husch hätte meine Mutter die durchgetaktete Methode geschimpft.
Was ist wohl die kostensparende Vorgabe? Eine Putzfrau räumt im Flüsterton ein, die Station in drei Stunden abhaken zu müssen. Stundenlohn 8,44 Euro brutto. Im Dauer-Wettbewerb befinden sich eben auch die Dienstleistungsfirmen. Alle Jahre wieder wechseln die Anbieter, aber dahinter immer dieselben Namen. Outsourcing, Lohndrückerei, was sonst.
Ich weiß, dass ich alles wischen müsste, aber es ist einfach nicht zu schaffen in der Zeit. Ich mache bestimmte Ecken nur einen über den anderen Tag. Wenn ich vier Stunden dazu hätte …
Ich ekle mich, sehe überall Flecken, Staubflocken, Schmier. Die Desinfektionsmittelspender an der Wand kommen mir krank vor, und meine Besucher drücken lieber mit dem Ellbogen darauf. Der Putzmittelgeruch lenkt davon ab, dass es Krankenhauskeime hier nicht allzu schwer haben. Tagelang starre ich auf einen alten Blutfleck am Fuß des Infusionsständers, fotografiere ihn, damit mich niemand der Übertreibung bezichtigt. Erst als ich einem Arzt den Flecken zeige, sorgt er fürs Entfernen.
Später werde ich einer allerersten Rechnung entnehmen, dass mein erster Aufenthalt 2.245,65 Euro Fallpauschale kostet. Im Aufnahmevertrag steht, was mir in der Klinik neben der medizinischen Behandlung dafür geboten wird:
Besondere Größe der Sanitärzone. Zusatzartikel Sanitär, Dekoration, Farbfernsehen und Telefonguthaben. Bevorzugte Lage. Wahlverpflegung. Zusatzverpflegung. Täglicher Hand- und Badetuchwechsel. Häufiger Bettwäschewechsel. Tageszeitung. Persönlicher Service.
Liest sich ordentlich. Tag für Tag erlebe ich anderes. Die Bettwäsche ist schnell durchgeschwitzt und verzogen, weil die Matratze darunter plastikbeschichtet ist. Die Falten drücken nach einer Weile in die Haut. Das reizt, wenn man sich kaum bewegen kann. Ich traue mich selten, den »persönlichen Service« zu verlangen, das kommt mir verwöhnt und egoistisch vor angesichts der deutlichen Überlastung des Pflegepersonals. Meine erste Dusche (nach Tagen) muss erkämpft werden, weil so etwas den work flow durcheinanderbringt. Die Schwestern dürfen sich seit 2004 Gesundheitspflegerin nennen, was ihren Beruf aber nicht besser bezahlt oder weniger anstrengend macht. Drei Jahre Ausbildung und eine staatliche Prüfung, um für eine
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