Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
niedergelassenen Ärzten, die ihre Patienten im Krankenhaus selbst operieren und stationär behandeln wollen. Diese Belegärzte verbessern die Auslastung des Krankenhauses, haben aber Ansprüche, denen ein personell schwach aufgestelltes Haus nur mit großen Anstrengungen entsprechen kann. Für uns Ober- und Assistenzärzte ist das kein schönes Arbeiten. Man sieht diese Patienten auf der eigenen Station, kennt sie oft aber nicht. Und nicht selten werden wir Krankenhausärzte auf Anweisung der Geschäftsführung auf der Station zu Schreibkräften und im OP zu Hakenhaltern für die externen Kollegen degradiert.
Vor dem Studium wussten wir, dass wir als Ärzte viel arbeiten müssen. Dass wir in den Nächten geweckt werden und dass wir wenig Zeit für unser Privatleben haben werden. Aber wir waren Idealisten und bereit, für das Gemeinwohl Opfer zu bringen. Heute hat sich das verändert, und ich denke, viele Kollegen in den Krankenhäusern schauen mit Unmut darauf, dass es immer nur ums Geld geht und darum, mit noch weniger Personal am besten noch mehr zu erwirtschaften. Wenn das nicht klappt, sehen wir die Unternehmensberater an die Kliniken kommen, die uns wie eine industrielle Produktionsstätte betrachten und dafür bezahlt werden, uns Rationalisierungspotenziale aufzuzeigen und darzulegen, wie wir mehr »Relativgewichte« hervorbringen.
Hinter einem »Relativgewicht« verbirgt sich übrigens ein Patient, der behandelt wird. Je kränker er ist, je aufwendiger er als Fall ist und je schneller wir ihn nach abgeschlossener, möglichst kostengünstiger Behandlung wieder nach Hause schicken, desto höher ist sein Relativgewicht. Desto mehr verdienen wir im Krankenhaus an ihm. Es wundert mich nicht, dass überall im Land private Kliniken aus dem Boden gestampft werden, in denen Patienten möglichst viele Hüft- und Knieprothesen eingebaut werden. Das rechnet sich!
Ich kenne einen Fall in einer kleinen Privatklinik, die vertraglich verpflichtet war, einen Arzt rund um die Uhr vorzuhalten. Ohnehin waren nur vier Ärzte angestellt, ein Chef, ein Oberarzt, zwei Assistenzärzte. Der Chef machte prinzipiell keinen Nachtdienst. Blieben drei übrig. Wenn einer von ihnen krank oder in Urlaub war, blieben zwei. Wie geht man in diesem Fall einigermaßen konform mit dem Arbeitszeitgesetz? Man deklariert die Arbeitszeit einfach als Bereitschaftsdienst. Tagsüber arbeitete ich also regulär, nachts war ich im Bereitschaftsdienst wochenlang fast ununterbrochen in der Klinik. Bis ich sagte: »Das mache ich nicht mehr mit, jetzt ist Schluss.« Die Geschäftsleitung hielt uns entgegen, dass wir als Abteilung in »Vorleistung« treten müssten, damit mehr Ärzte finanziert werden könnten. Bei mehr Umsatz würde es mehr Stellen geben …
Schließlich lenkte die Geschäftsführerin aber ein und suchte einen weiteren Arzt für den Nachtdienst. In der ländlichen Region fanden sie einen 68-jährigen Hausarzt und einen 72-jährigen ehemaligen Chirurgen. Den 72-Jährigen, übrigens mit Hörgerät, nahmen sie, weil er als Honorararzt billiger war. Er musste, wie bislang ich, nachts alles allein machen, röntgen, gipsen, Wunden versorgen, Briefe schreiben usw. Er konnte nachts kaum schlafen, weil er Angst hatte, das Telefon zu überhören. Schon nach der dritten Nacht war er fertig. Obwohl er nur fünf Patienten auf Station zu versorgen hatte. Ich habe der Geschäftsleitung gesagt, dass der Kollege einen Herzinfarkt bekommen würde, wenn er sieben Nächte am Stück arbeiten soll. Und dass ich dann Anzeige erstatten würde. Sie können sich denken, dass das Arbeitsverhältnis mit mir bald darauf beendet war – in gegenseitigem Einvernehmen.
In meinem jetzigen Krankenhaus, einer großen kommunal geführten Klinik, stehen die Fachabteilungen untereinander in Konkurrenz, vor allem um die Stellen, aber auch um die zur Verfügung stehenden OP -Säle. Alle arbeiten bis zum Anschlag, alle schauen, was die andere Abteilung macht oder bekommt. In den nächtlichen Bereitschaftsdiensten arbeiten die Assistenzärzte der verschiedenen Fachabteilungen dagegen eng zusammen. Diese Zusammenführung ist gut, bedeutet aber auch, dass nachts ein Abdominalchirurg zum Beispiel zusammen mit einem Urologen alle chirurgischen Patienten des Krankenhauses betreut. Für die Unfallchirurgie sind diese jungen Kollegen nicht ausgebildet – das kann bei einem nächtlichen Aufkommen von 80 Prozent unfallchirurgischen Patienten in der Notaufnahme riskant sein. Der Stress
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