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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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miterlebt. Jeden Monat der jour fixe mit dem Geschäftsführer. Großer Auflauf im Konferenzsaal. Die Chefärzte aller Abteilungen nehmen Platz in großer Runde. Der Geschäftsführer öffnet den Laptop, wirft Charts an die Wand, mit vielen Zahlen, grünen und roten Kurven. Eine Abteilung nach der anderen wird vor den Augen aller durchleuchtet. Die Ausgaben für das Personal, für Schwestern und Pfleger: Sinken die Zahlen wie vereinbart? Steigt die Anzahl der Fälle wie vorgegeben? Wer hat seine Zielvereinbarung erfüllt, wem ist es gelungen, zum Beispiel eine Stelle später zu besetzen, als eigentlich notwendig wäre? Bei wem entspricht die Anzahl der behandelten Patienten der Zielvereinbarung? Wer all dies geschafft hat, dessen Zahlen und Kurven strahlen in sattem Grün, und der Geschäftsführer findet anerkennende Worte. Nur in der Chirurgie, der Abteilung von Professor Namenlos, sind die Zahlen rot. Alle Kollegen in der Runde sehen die rot geschwungene Kurve, sehen die Vorgaben der Geschäftsführung und sehen, dass ausgerechnet der Chirurg, der die Einnahmen der Klinik mit am meisten steigern könnte, im Soll liegt und die Vorgaben nicht erfüllt. Der Druck wirkt subtil. Unmerklich. Ja, er fühle sich manchmal unter Druck. Es ist lästig und unangenehm, auch wenn er sich mit der Zeit daran gewöhnt. »Man kann das aushalten«, sagt er, »aber warum soll man sich so etwas antun?«
    Bevor das neue Abrechnungssystem eingeführt wurde, hatten Chefärzte ein festes Grundgehalt. Im Durchschnitt lag es bei rund 100000 Euro. Aber Chefärzte hatten damals noch das Recht, mit Privatpatienten direkt abzurechnen – was dazu führte, dass Privatversicherten oft auch unnötige Behandlungen angeboten wurden. Die Chefärzte konnten so ihr Salär beträchtlich aufbessern – je nach Krankenhaus und Fachgebiet ließ sich das Gehalt auf 250000 bis 500000 Euro jährlich steigern.
    Solche Arbeitsverträge werden heute nur noch selten abgeschlossen. Heute zahlen Privatpatienten ihre Rechnung direkt an die Klinik und nicht mehr an den Chefarzt persönlich. Den Chefärzten fehlt also diese sichere Einnahmequelle. Die Klinikmanager haben sich stattdessen eine andere Konstruktion ausgedacht, eine Regelung, die es ermöglicht, Chefärzte ganz generell für die Produktion von »Fallzahlen« oder für die Steigerung des Umsatzes der Abteilung besser in die Pflicht zu nehmen: Das Gehalt des Chefarztes wird aufgeteilt in einen fixen Anteil – das Grundgehalt – und in einen variablen, den sogenannten Bonus, der allerdings nur ausgezahlt wird, wenn am Jahresende mehr Patienten behandelt wurden als im Jahr davor, oder wenn es gelungen ist, Personalkosten einzusparen, zum Beispiel eine Stelle in der Pflege nicht mehr zu besetzen.
    Bonusvereinbarungen an der Grenze zur Unsittlichkeit
    In der Bochumer Innenstadt, direkt neben dem weitflächigen Einkaufszentrum, hat eine große Anwaltskanzlei ihren Hauptsitz. In den Büros stapeln sich Akten über Akten mit Chefarztverträgen und mit solchen »Zielvereinbarungen«. Keine andere Kanzlei in Deutschland ist wohl so gut mit diesen Vertragskonstruktionen vertraut. Denn Rechtsanwalt Norbert H. Müller hat sich nicht nur auf Medizin- und Arbeitsrecht spezialisiert, er ist gleichzeitig auch der Hausjustitiar des Verbands der Leitenden Krankenhausärzte ( VLK ). In dieser Funktion berät er viele Chefärzte, bevor sie einen Arbeitsvertrag unterzeichnen. Deshalb hat er schon in Hunderte solcher Vereinbarungen Einblick gewonnen.
    Rechtsanwalt Müller ist ein eloquenter und lebhafter Redner, der keinen Hehl daraus macht, dass er viele dieser Bonusvereinbarungen, die auf seinem Schreibtisch gelandet sind, geradezu unsittlich findet. Vor allem auf die privaten Klinikkonzerne ist der Anwalt nicht gut zu sprechen. Denn was die ihren Chefärzten zuweilen an Verträgen anbieten, sei eine Zumutung. Er wolle nicht zum Klassenkampf aufrufen, sagt Müller, aber man müsse das Kind schon mal beim Namen nennen: »Die privaten Betreiber, die einen hohen Gewinn erwirtschaften müssen, sind oft auffällig.« Überhaupt seien die ersten Verträge dieser Art nach seiner Erinnerung von privaten Klinikkonzernen entwickelt und im Laufe der Jahre immer raffinierter ausgestaltet worden.
    Was genau findet der Anwalt unsittlich? Dass das Fixgehalt des Chefarztes in den letzten Jahren in den Verträgen immer weiter abgesenkt und der variable Anteil im Gegenzug erhöht worden sei. Müller zeigt Verträge, die er vorher anonymisiert

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