Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
das Gespräch zwischen Arzt und Patient als die Grundlage medizinischer Heilkunst bezeichnet, und beklagt, dass über die »Zeit- und Prozessoptimierung sich das Eigentliche, nämlich Zeit, Zuwendung und Fürsorge, immer mehr zu einem luxuriösen Gut entwickelt«.
Storm kann sich noch genau an den Tag zu Beginn des Jahres 2005 erinnern, als die Geschäftsführung die Chefärzte zum ersten Mal zu einem »Zielvereinbarungsgespräch« bat. Dieses Wort war damals im Krankenhaus noch nicht geläufig. Der Geschäftsführer erklärt den Ärzten, sie hätten ab jetzt die Zahl ihrer Patienten fortlaufend zu steigern – und zwar um fünf bis zehn Prozent pro Jahr. Eine entsprechende Zielvereinbarung liege zur Unterschrift bereit.
Wolfgang Storm braucht eine Weile, bis er begreift, was man von ihm erwartet: Er habe künftig die Zahl seiner kleinen Patienten fortlaufend zu erhöhen. Eine solche Denkweise passt nicht zu seinem Selbstbild als Arzt. Sollte er sich auf die Straße stellen und kranke Kinder einfangen? Niedergelassenen Ärzten eine Prämie zahlen, damit sie ihre kleinen Patienten in seine Abteilung einweisen? »Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen«, sagt Wolfgang Storm, »nicht der fachliche und humanitäre Umgang mit Patienten soll für den Arzt im Vordergrund stehen, sondern die Profitsteigerung in Form von mehr Patienten.«
Er versucht, seinen Geschäftsführer davon abzubringen. Argumentiert, dies sei mit dem ärztlichen Ethos nicht vereinbar. Wolfgang Storm dringt nicht durch, unterschreibt schließlich doch, zähneknirschend. Aber er will sich mit dem neuen Denken nicht arrangieren. Resigniert und wütend geht er drei Jahre später in den Vorruhestand. Diese Krankenhauswelt ist nicht mehr die seine.
Aber Wolfgang Storm geht nicht schweigend. Er will eine Debatte anstoßen, schickt den Brief an das Deutsche Ärzteblatt. Das Echo ist spärlich. »Ich bin zwar nur eine Oberärztin, aber ich habe alles hautnah so erlebt«, schreibt ihm eine Chirurgin. Ein Krankenhausarzt aus Hof sieht die Gefahr, dass das Krankenhaus mit Hilfe der Ärzte zu einer angeblich »kundenorientierten Produktionsstätte des Gesundheitswesens« verkommt. Ein dritter Arzt findet den Brief larmoyant und ärgerlich: Chefärzte sollten aufhören, sich gegen ökonomische Notwendigkeiten zu stemmen 20 .
Mehr Geld nur für mehr Operationen
»Zielvereinbarungen« kommen zu dieser Zeit immer mehr in Mode. Der Geist des neuen Abrechnungssystems mit dem Kürzel DRG 21 , das die Politik wenige Jahre zuvor für die Krankenhäuser eingeführt hat, zeigt Wirkung. In immer mehr Kliniken werden Chefärzte aufgefordert, die Patientenzahlen auf den Stationen zu steigern. Die Geschäftsführer bieten dafür Bonuszahlungen. Marktmechanismen sollen im Krankenhaus stärker Fuß fassen. Wettbewerb und einheitliche Preise sollen dafür sorgen, dass Krankenhäuser wirtschaftlicher und effektiver arbeiten. Der Alltag im Krankenhaus verändert sich dadurch schleichend, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt. Die Zielvereinbarung wird zum Instrument, Ärzte wie in der Industrie zu steigenden »Produktionszahlen« zu verpflichten.
Wer mehr operiert, mehr Schrittmacher einsetzt, mehr Gallenblasen entfernt, wird für diese »Mehrleistung« mit einer Extraprämie belohnt. Führungsprinzipien aus der Welt der Banken oder großer Industrieunternehmen finden sich plötzlich in der Medizin wieder.
Ins Blickfeld der Krankenhausmanager geraten zuerst jene Ärzte, deren Eingriffe sich für die Kliniken am meisten lohnen: Kardiologen, Orthopäden und Chirurgen. Sie sind die neuen Profitcenter im Krankenhaus, auf ihnen lastet der größte Druck, den Umsatz zu steigern und die Kosten pro Fall zu senken.
Als Kinderarzt Wolfgang Storm seine geliebte Klinik verlässt, unterschreiben immer mehr Chefärzte Bonusverträge, die Fallzahlsteigerungen belohnen. Im Jahr 2009, das zeigt eine Studie der Unternehmensberatung Kienbaum, enthält die Hälfte aller Arbeitsverträge solche Bonusregelungen. Der Bonus fließt dann, wenn die Ärzte es schaffen, die Behandlungszahlen zu steigern: mehr Herzschrittmacher, Stents oder Kathetereingriffe, mehr Operationen und Transplantationen. Meistens wird dieser Sachverhalt in den Chefarzt-Verträgen etwas vernebelt, denn formal sind Bonuszahlungen oft an die Steigerung sogenannter »Case-Mix-Punkte« gekoppelt. Das bedeutet, dass auch der Schweregrad einer Erkrankung beim Bonus mitgerechnet wird. Im DRG -System ist der Schweregrad
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