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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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der Erkrankung nach komplizierten Regeln »gewichtet« und mit einem »Relativgewicht« versehen, wie die Erfinder des DRG -Systems das nennen. Was sich also vor allem rechnet, sind Fallzahlsteigerungen bei Erkrankungen, die im DRG -Abrechnungsmodus ein hohes »Relativgewicht« haben. Das sind Operationen, Transplantationen, Untersuchungen, für die man allerhand Medizintechnik benötigt.
    Teilweise bekommen Chefärzte darüber hinaus noch eine Bonuszahlung, wenn sie beim Personal sparen oder möglichst viele Privatpatienten an ihre Abteilung binden.
    Es gestaltete sich ziemlich kompliziert, Chefärzte, die mit Bonusverträgen arbeiten, für ein Interview zu gewinnen. Sie haben Angst, sich mit Namen zu »outen« – weil sie sofort in den Geruch kommen, aus wirtschaftlichen und nicht aus medizinischen Gründen Patienten behandelt zu haben. Außerdem enthalten die Verträge eine Klausel, die zum Stillschweigen verpflichtet. Wir treffen dann doch einen Chirurgen an einem großen Krankenhaus. Es gäbe einiges über ihn zu erzählen, aber das würde seine Identität verraten. Nur so viel: In seinem Fachgebiet, der Chirurgie, hat er sich einen guten Ruf erarbeitet, man kennt in der Region, in der das Krankenhaus liegt, seinen Namen. Er ist fünfzig Jahre alt, Familienvater, seit ein paar Jahren Chefarzt. Nennen wir ihn Professor Namenlos. Er hat ein persönliches Anliegen: Die Öffentlichkeit müsse endlich begreifen, was in den Kliniken passiert.
    Das städtische Krankenhaus, in dem er arbeitet, wird 2007 an einen privaten Klinikbetreiber verkauft. Die neue Geschäftsführung strukturiert das Krankenhaus unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten um: Ausgliederung von Personal in Servicegesellschaften, Lohnsenkungen, Abbau von Stellen in der Pflege, Spezialisierung auf lukrativ erscheinende Behandlungen, Bonusvereinbarungen mit den leitenden Ärzten. Auch Professor Namenlos lernt dazu, als die Geschäftsführung ihn zum persönlichen »Zielvereinbarungsgespräch« bittet. Gleich zu Jahresbeginn findet es statt. Der Geschäftsführer kommt rasch zur Sache: Er habe die Operationszahlen von Professor Namenlos prüfen lassen und mit den chirurgischen Abteilungen anderer Standorte des Unternehmens verglichen. Der konzerninterne Vergleich zeige, dass er die Zahl seiner Operationen durchaus steigern könne. Der Geschäftsführer legt einen Vertrag mit konkreten »Zielvorgaben« auf den Tisch: Am Jahresende soll der Umsatz der chirurgischen Abteilung um fünf Prozent höher liegen als bisher. Und auch im kommenden Jahr sollen die Fallzahlen um fünf Prozent steigen. Und im Jahr darauf wieder um fünf Prozent. Falls er diese Fallzahlsteigerung erreiche, bekäme er pro Jahr einen Bonus von 40000 Euro obendrauf. Falls nicht, hätte er ihn verspielt.
    Professor Namenlos wehrt sich. »So arbeite ich nicht. Das ist mit meinem Selbstverständnis nicht zu vereinbaren.« Doch es gibt wenig zu verhandeln. Der Geschäftsführer beharrt auf seinen Steigerungsraten. Aber Professor Namenlos bleibt hart. Er unterschreibt die Zielvereinbarung mit der Bonusregelung nicht, verzichtet lieber auf die 40000 Euro.
    Was stört ihn so sehr? Die Versuchung, die von solchen Boni ausgeht: »Wenn Sie einem Arzt mit einem solchen Bonus sagen, er muss 200 Hüftimplantate einsetzen, und am Jahresende sind es nur 195, dann möchte ich nicht zu den Patienten gehören, die in der Ambulanz sitzen.«
    Er beschließt, sich nach einer anderen Chefarztstelle umzusehen, einer Stelle ohne Mengenanreize. Doch Chefarztstellen ohne solche Anreize sind rar geworden. Es sollte noch gut drei Jahre dauern, bis er die Gelegenheit findet, in ein anderes Krankenhaus zu wechseln, wo man sich solcher Anreize noch nicht bedient.
    Schon der Begriff »Fallzahlsteigerung« ärgert ihn. Aus seiner Sicht ist eine solche Begrifflichkeit in der Medizin fehl am Platz – »die kommt nicht von uns Ärzten«. Die Anreize wirken subtil, meint er. »Es sagt ja kein Geschäftsführer: Sie müssen Ihre Indikationen großzügiger stellen, damit Sie mehr Fälle haben. Aber vielerorts geht die Fallzahlsteigerung nur, wenn man Dinge tut, die medizinisch nicht notwendig sind.« Den Chirurgen stört vor allem »die nahezu ausschließliche Orientierung an der Mengenausweitung und an Fallzahlen«.
    Viele Kliniken kontrollieren auf ausgeklügelte Weise, ob die Mediziner sich an die Vereinbarungen halten. Diese Kontrollen sind wohldurchdacht und wirken subtil, das hat Professor Namenlos hautnah

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