Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
konnte wenigstens eine Krankenschwester mit ihm vor einer OP plaudern, ihm die Angst ein wenig nehmen. Die Angst vor der Narkose. Die Angst zu sterben. Wer nimmt sich heute dieser Seelenqual an? Das kann nur ein anderes menschliches Wesen. Keine Maschine, die piepst und meldet, dass der Blutdruck gut ist. Wo ist der Mitmensch? Der Mitfühlende, der sagt, es wird gut, vertrauen Sie uns. Früher standen wir Ärzte und die Pflegekräfte den Patienten bei. Heute kriegt der alte Patient mit Gehbeschwerden preiswerte Pampers, weil keiner da ist, der mit ihm zur Toilette gehen kann.
Das Pflegepersonal bei uns wurde um ein Drittel gekürzt. Nachts arbeitet jetzt nur noch eine Schwester auf meiner Station mit 30 Betten. Gestern lagen in einem Zimmer drei alte Männer, einer war dement. Er war unruhig, rutschte im Bett hin und her, gefährdete seine Hüftstabilisierung, die wir ihm wegen einer Oberschenkelfraktur vorgestern eingesetzt hatten, und schrie. Die anderen wurden unruhig und riefen laut nach der Schwester. Weitere Patienten wachten auf. Aber die Schwester versorgte gerade zwei Zimmer weiter die alte Frau mit der Hüftfraktur, die auch Schmerzen und zudem gerade ins Bett gemacht hatte. Keiner war da, der dem Dementen eine Zeitlang die Hand hielt und ihn beruhigte. Vielleicht brauchte er tatsächlich nur etwas Zuspruch, mehr nicht. Nur etwas Menschlichkeit. Die ursprünglich in den Krankenhäusern ihren Platz hatte. Jetzt sind sie Wirtschaftsunternehmen einer Industrie, die sich mit dem Namen »Gesundheitswesen« schmückt.
Die Gesunden von heute, meine ich, sollten nicht warten, bis sie alt und krank werden und ins Krankenhaus müssen, bevor sie diese Forderung aufstellen: Im Gesundheitswesen machen wir keinen Profit, sondern wir handeln nach dem Solidarprinzip. Die Gesellschaft kann aber nicht mit Krankheit umgehen. Da ist der Druck, dass der Mensch fit und schön sein muss. Da versprechen Kliniken, besonders die privaten, dass sie Wellness bieten. Sie reden nicht von Krankheit. Sie locken: »Kommen Sie zu uns, und erleben Sie Wellness. Sie werden rausgehen wie neugeboren.« Aber das stimmt nicht. Das ist so verlogen. Sie betrachten den Körper als Maschine, die repariert werden kann. Aber der Kranke, der da liegt, wird blitzschnell erkennen, dass der Körper keine Maschine ist. Er tut weh. Der Kranke fühlt sich miserabel, lustlos. Hat Schmerzen. Er ist kein Stück, das auf dem Fließband weitergeschoben wird. Er ist ein Individuum und ist beleidigt, wenn der Arzt ihn nicht als solches wahrnimmt. Der Arzt kann aber nicht wahrnehmen. Wie denn? Jede Sekunde wird gerechnet. Gewinn muss erwirtschaftet werden. Und ich will, dass alle Menschen dies überdenken. Wir müssen gegen diese Ökonomisierung kämpfen. Es kann doch nicht sein, dass Humanität verloren geht. Dass menschliches Wohlwollen nur noch gegen bare Münze zu haben ist. Dass Hilfe und Beistand Geschäft wird.
Boni für Chefärzte: unsittlich und gefährlich
Bonusverträge und Grenzverletzungen
Mit einem Abschiedsbrief verlässt der Kinderarzt Wolfgang Storm das Krankenhaus, in dem er 26 Jahre lang gearbeitet hat. Fast sein gesamtes Berufsleben hat er auf der Kinderstation verbracht, hat kranken Kindern geholfen, Leben gerettet, Leiden gelindert, Eltern Trost zugesprochen, wenn das Kind krank oder behindert war. Viele Jahre war er Stationsarzt, zuletzt Chefarzt der Abteilung für Kinderheilkunde. Und nun geht er, lässt sich mit dreiundsechzig vorzeitig pensionieren, obwohl er sich doch viel zu jung fühlt für ein Dasein als Pensionär und ihn seine Arbeit auf der Station ausgefüllt hat, bis zuletzt. Die Behandlung behinderter Kinder war ihm ein Herzensanliegen. Zwei Bücher über die medizinische Betreuung von Kindern mit Down-Syndrom hat er geschrieben.
Warum begibt sich so einer vorzeitig in den Ruhestand? Sein Abschiedsbrief ist viele Seiten lang, Auszüge werden später im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht 19 . Wolfgang Storm beschreibt, wie betriebswirtschaftliches Kalkül das Denken schleichend verändert und sich wie ein Krake in den medizinischen Alltag einnistet. Der Ton seines Briefes ist persönlich gehalten, der Stil eher unbeholfen. Aber der Kinderarzt trifft den Kern von Veränderungen, die Gesundheitswissenschaftler als »Ökonomisierung« oder gar als »Kommerzialisierung« des Krankenhauses bezeichnen: als Überlagerung ökonomischen Denkens über die Belange der Patienten und der Medizin. Wolfgang Storm zitiert Karl Jaspers, der
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