Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
Gefühl bekommen, dass die Ökonomisierung der Kliniken die medizinischen Maßnahmen im Krankenhaus immer stärker überlagert und einen immer tieferen Keil zwischen den Arzt und den Patienten treibt. »Operieren für die Bilanz der Klinik« ist das Hauptthema am dritten Kongresstag. Das klingt wie ein Hilfeschrei.
Professor Hartwig Bauer war viele Jahre der gewählte Generalsekretär der Chirurgen aus ganz Deutschland. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er die Öffentlichkeit aufrütteln und die Politik zum Handeln zwingen will. Die Tragweite dessen, was er und andere gewählte Vertreter der Chirurgengesellschaft an diesem dritten Kongresstag öffentlich berichten, ist Professor Bauer bewusst: »Es werden Eingriffe durchgeführt, nur um die ökonomischen Ziele des Krankenhauses zu erreichen und ohne zu berücksichtigen, ob dieser Eingriff für den Patienten auch gerechtfertigt ist«, sagt Bauer. Er spricht langsam, betont jedes Wort. »Unsere Kollegen klagen, dass sie den Druck von Seiten der Geschäftsführung nicht mehr aushalten.« Und: »Immerzu müssen sich die Ärzte rechtfertigen, warum sie die kalkulierten Operationszahlen nicht erreicht haben.«
Professor Bauer ist eine Autorität unter den Chirurgen und auch darüber hinaus. Jahrelang war er Chefarzt in einer großen Klinik, gerade zieht er sich aus Altersgründen aus dem aktiven Berufsleben zurück. Er plädiert schon lange für eine Abkehr von traditionellen Hierarchien und von der alten Chefarztherrlichkeit in diesem bisher fast ausschließlich von Männern beherrschten Fachgebiet sowie für eine andere Gesprächskultur mit den Patienten.
Bauer gehört nicht zu den Ärzten, die ökonomisches Denken unärztlich finden. Wirtschaftlichkeit und Medizin hat er nie als Gegensatz gesehen. Im Gegenteil. Er hat sich oft mit anderen Chefärzten angelegt, ihnen unwirtschaftliches Verhalten vorgehalten, wenn diese mit leuchtenden Augen vom Kongress zurückkamen und die Anschaffung neuer Medizintechnik durchsetzten, deren Nutzen völlig unklar war. Professor Bauer will erreichen, dass auch in der Chirurgie die Regeln der evidenzbasierten Medizin gelten – also einer wissenschaftlich geprüften Anwendung von Medikamenten und Behandlungsmethoden. Neue Operationsverfahren sollen in wissenschaftlichen Studien getestet und nur die Methoden eingeführt werden, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Er ist überzeugt, dass damit die Ressourcen in der Gesundheitsversorgung vernünftiger und effizienter eingesetzt werden könnten.
Doch Bonusverträge, die Chirurgen unnötige Eingriffe abverlangen, damit die Bilanz der Klinik stimmt, haben für ihn mit wirtschaftlich rationalem Handeln nichts zu tun. Und er ist sich sicher, dass diese Verträge dem Patienten schaden. »Ich kann den Zusammenhang nicht beweisen«, sagt er. »Aber es fällt schwer, die gestiegenen Operationszahlen anders zu erklären« (siehe Operation Geldsegen, S. 167). Weil solche Bonusregelungen Ärzte zutiefst korrumpieren und Patienten schaden können, verlangt Bauer von der Politik, solche Zielvereinbarungen zu verbieten.
Aber das Bundesgesundheitsministerium stellt sich taub, reagiert nicht auf den Hilferuf der Chirurgen. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft reagiert nicht, obwohl sie über die Gesundheitsversorgung in Deutschland an maßgeblicher Stelle mitentscheidet und auch das Gesamtwohl im Auge haben müsste, nicht nur das Eigeninteresse der Kliniken. Die Krankenhausgesellschaft ist, wie gesagt, einer der drei Akteure im Gemeinsamen Bundesausschuss. Dieses Gremium ist der Inbegriff des deutschen Sonderwegs: der ärztlichen Selbstverwaltung. Hier wird entschieden, welche Leistungen von den Krankenkassen bezahlt werden oder welche Qualitätskriterien Ärzte und Krankenhäuser erfüllen müssen. Im Gemeinsamen Bundesausschuss sollen sich die Interessengruppen auf tragfähige Kompromisse verständigen. Doch die »drei Bänke«, so nennt man die drei Lobbygruppen, die Deutsche Krankenhausgesellschaft, die Bundesvereinigung der Kassenärzte und der Spitzenverband der Krankenkassen in Deutschland, blockieren sich in manchen Fragen über Jahre hinweg gegenseitig.
Mitten im Sommer des Jahres 2012 interessiert sich Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr ( FDP ) plötzlich doch für wirtschaftliche Anreize in Chefarztverträgen. Auch hinter der Glasfassade am Herbert-Lewin-Platz in Berlin, dem Bürohaus der Deutschen Krankenhausgesellschaft, geht es auf einmal hektisch zu.
Denn
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