Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)
und weil von 15 Pflegestellen nur elf besetzt waren, blieb für die Schwestern so gut wie keine Zeit, dem neuen Zivi irgendetwas zu zeigen oder zu erklären. Er schaute sich an, wie die Schwestern arbeiteten, »pack mal hier an«, hieß es dann, »fass da unten an«, »zieh«, »schieb«. Die Patienten mussten mitmachen, Cristian musste mitmachen, jede Hand wurde gebraucht.
Schon nach zwei Wochen war er wie selbstverständlich Teil des Teams. Zwar schob er noch immer in erster Linie Patienten durch die Katakomben des weitläufigen Krankenhauses, in dem Alt- und Neubauten durch Behelfsflure miteinander verbunden waren. Wenn zwischendurch Zeit war, ging Cristian mit zum Waschen, Bettenmachen, Blutdruck messen, zum Verbinden, Urinbeutel wechseln, Medikamente verteilen und manchmal sogar zum Spritzen. Niemand auf der Station hatte die Zeit, sich zu fragen, ob das, was der ungelernte Zivi da tat, eigentlich erlaubt war. Hätte sich das jemand gefragt, wäre er schnell wieder zum Patiententransporteur degradiert worden. Denn es war natürlich alles andere als erlaubt. Aber darüber sprach eben keiner.
Die Engpässe in der Pflege führten auch dazu, dass niemand die Untersuchungen koordinierte. Wohin die Patienten gebracht werden sollten, musste Cristian bald selbst den Dienstplänen und Patientenakten entnehmen. Das führte dazu, dass manche Untersuchung nicht mehr am vorgesehenen Tag stattfinden konnte, wenn beispielsweise zu viele Patienten gleichzeitig zur Computertomografie sollten. Freilich betrafen solche Verschiebungen nicht Patienten, die operiert werden sollten. Die mussten natürlich zur vorgesehenen Zeit abgeliefert und auch wieder abgeholt werden – eigentlich in Begleitung mindestens einer Schwester, aber wer fragte da schon?
Bei anderen Patienten kam es vor, dass sie Stunden, einen Tag und manchmal sogar ein paar Tage warten mussten, bis sie ihren Termin zu einer Untersuchung bekamen. Cristian und die Schwestern teilten so ein stillschweigendes Abkommen, das dem Zivi faktisch die Neuorganisation des Ablaufs überließ. Patienten hatten schließlich Zeit. Sie konnten warten. Es blieb nichts anderes übrig, als den Druck, den der Personalmangel mit sich brachte, an die Patienten weiterzugeben.
Getaktete Heilung
Auch in dem Krankenhaus, in dem Julian seit September 2011 seinen Dienst versieht und die Patienten durch die Flure schiebt, ist die Zeit knapp. Zwar sind heute alle Planstellen besetzt, aber es sind längst nicht mehr so viele wie noch vor zehn oder zwanzig Jahren, das bekommt er immer wieder von den Pflegern und Schwestern zu hören. Und wo früher der zeitliche Engpass auf die Patienten abgeladen werden konnte, geht von ihnen heute umgekehrt der zeitliche Druck aus; denn Patienten sollen nicht länger als nötig im Krankenhaus liegen, sonst macht das Krankenhaus Verlust. War es 1989 noch lukrativ, Patienten so lang wie möglich zu behalten, weil jeder Liegetag von den Kassen bezahlt wurde, wird heute nach Fallpauschalen vergütet, das heißt, alles muss schneller gehen. Und es geht schneller. Die Liegezeiten verkürzen sich, die Untersuchungen müssen schnell aufeinander folgen, es bleibt keine Zeit nachzufragen, ob diese oder jene Voruntersuchung in jüngster Zeit von einem niedergelassenen Arzt gemacht worden ist.
Kaum ist der Patient im Krankenhaus, muss Julian ihn zum Röntgen bringen, zum EKG , die Blutröhrchen ins Labor. Sich Gedanken darüber zu machen, was hinter den Türen geschieht, bleibt ihm keine Zeit. Die Patienten lassen das Prozedere in der Regel ohne Widerspruch über sich ergehen. Manchmal aber auch nicht. In der zweiten Woche schiebt eine resolute Frau ihre Mutter in einem Rollstuhl auf die Station, auf deren Schoß eine Akte und mehrere Röntgentüten balancieren. Kaum ist die Mutter im Zimmer abgeliefert, weist die Frau die Krankenschwestern darauf hin, dass zahlreiche Untersuchungen jüngst gemacht wurden, also keine Notwendigkeit bestehe, Untersuchungen vorzunehmen, die ihre Mutter unnötig belasten. Falls es darüber Diskussionsbedarf bei der Ärzteschaft gebe, solle man sie kontaktieren. Wie sich bald herausstellt, ist die Frau selbst niedergelassene Ärztin. Sie weiß, wovon sie spricht.
Doch das ist die Ausnahme. In der Regel sind die Untersuchungen genau durchgetaktet. Und sie müssen schnell aufeinander folgen, nicht so, wie noch vor zwanzig Jahren, als man Patienten oft schon Tage vor einer Operation in die Klinik bestellte. Heute geht es wie am Fließband.
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