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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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Voruntersuchung, Operation, ein paar Tage Erholung, der Nächste bitte.
    »Ist das Krankenhaus ein menschlicher Raum?«, fragt sich Julian nach ein paar Wochen. Er ist mit seinen 19 Jahren der einzige Bundesfreiwillige unter vierzig in diesem städtischen Krankenhaus. Julian macht den Dienst, weil er sich überlegt, Krankenpfleger zu werden. Er will mit Menschen arbeiten. Die Vorstellung, dabei mitzuwirken, dass Menschen geheilt und in ihr Leben zurückgebracht werden, fasziniert ihn. Durch den Dienst will er herausfinden, ob dies der Ort sein könnte, an dem er einen Großteil seines Lebens verbringen wird. Die Wirklichkeit ernüchtert ihn.
    Dazu trägt noch eine weitere Erfahrung bei. In der Regel hat Julian Frühschicht, manchmal wird er aber auch zur Spätschicht eingeteilt. Dann wird es ruhig im Schwesternzimmer. Nicht aber auf den Fluren.
    Oft gehen gleich mehrere Lichter vor den Patientenzimmern an. Aber zu welcher Glocke sollen die Schwestern oder Pfleger zuerst? In der Spätschicht kümmern sich zwei Schwestern oder Pfleger um 35 Patienten, sie verteilen Essen, Medikamente, verbinden, befolgen die Anordnungen der Ärzte und lindern die akuten Nöte der Patienten. Jeder Fehler dabei wäre fatal. Und Fehler passieren. An einem Herbsttag, an dem auch Julian auf der Station ist, kollabiert eine Patientin, während das Personal in den anderen Zimmern unterwegs ist. Er findet sie in schwerer Luftnot und kann gerade noch rechtzeitig einen Arzt rufen. Die Patientin verbringt die nächsten Tage auf der Intensivstation. Danach darf sie zurück. Als Julian die Frau in ihrem Bett von der Intensivstation holt und dem Arzt begegnet, den er in der Spätschicht gerufen hatte, kneift ihn dieser anerkennend in die Schulter. In diesem Moment weiß Julian, dass er angekommen ist in diesem Krankenhaus. Für ihn wird das der schönste Moment seines Jahres bleiben. Aber was, wenn er ein paar Tage zuvor nicht zufällig in das Zimmer der Frau gegangen wäre? Und in welchem Verhältnis steht das gerettete Leben zu dieser Geste der Anerkennung?
    Julian beobachtet, dass das Pflegepersonal einen Großteil seiner Arbeitszeit mit Dokumentationen verbringt. Immer wieder sitzen die Schwestern und Pfleger über den Patientenakten. Alle Schritte müssen genau festgehalten werden. Klagen gegen das Krankenhaus nehmen zu. Und so werden Überstunden angehäuft, die sich zu unrealistischen Türmen aufbauen; keine Chance, sie jemals in Freizeit umzuwandeln. Den Ärzten geht es genauso, auch sie sitzen mitunter noch nachts und an den Wochenenden vor Computerprogrammen und Papieren. Immer weniger Raum bleibt da für den unmittelbaren Kontakt zum Patienten.
    Auch wenn Julian während der Transporte seiner Patienten Zeit hat, sich diese oder jene Sorge anzuhören, wird ihm doch bewusst, dass es niemanden gibt, der sowohl die Kompetenz als auch die Zeit hat, dem Patienten zu erklären, was genau medizinisch in dieser Maschinerie mit ihm geschieht, was ihm bevorsteht und welche Alternativen es geben könnte. Immer wieder wollen die Patienten von Julian ärztlichen Rat, und er kann noch so häufig beteuern, dass er da nicht helfen könne, die Fragen hören nicht auf.
    Julian hat im Grunde nichts gegen die Taktung. Warum sollte ein Mensch länger im Krankenhaus bleiben als nötig? Es wäre eine Überforderung, aus einer Institution, die Menschen heilen soll, eine Sozialstation zum Abladen persönlicher Sorgen zu machen, besonders für jene, die nicht mehr von ihren Angehörigen aufgefangen werden. Ein Erlebnis dazu in den ersten Tagen seines Dienstes beeindruckt ihn nachhaltig.
    Eine 61-jährige Frau hatte sich selbst ins Krankenhaus eingeliefert. Sie klagt über unerträgliche Schmerzen in der Herzgegend. Die Untersuchungsmaschinerie setzt sich in Gang. Bei ihr allerdings wird das gesamte Repertoire nötig. Nach zwei Tagen stellt sich heraus: Brustkrebs, Metastasen in den Lymphknoten, Wasser in der Lunge. Einen Arzt hatte sie vorher nicht aufsuchen wollen, und keiner will sich ausmalen, welche Schmerzen die Frau in den vergangenen Wochen ausgehalten hatte. Es ist fraglich, wie viel Zeit ihr noch bleiben würde. Die Frau wird unter Morphium gesetzt, nach zwei Tagen ist sie kaum noch ansprechbar.
    Julian wird aufgetragen, in einem Adressbuch, das sich in der Handtasche der Frau gefunden hat, nach den Angehörigen zu suchen. Er telefoniert erst die gleichlautenden Namen ab, dann alle anderen. Ein paar Angehörige kann er erreichen. Drei Tage später stirbt

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