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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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die Frau. Niemand hatte Zeit gefunden, sie vorher noch einmal zu besuchen.
    Kann das Krankenhaus solche familiären Defizite, das gesellschaftliche Manko auffangen? Nein. Nicht unter den Bedingungen, wie es organisiert ist, findet Julian. Und es wäre auch nicht richtig. Die Menschen müssen so bald wie möglich wieder nach Hause kommen. Das Krankenhaus als Pflegeeinrichtung zu missbrauchen, wie es früher mitunter der Fall war, lehnt er ab. Er fände es allerdings wünschenswert, ein wenig Raum für Erklärung, für Kommunikation zu lassen – und ein Gefühl für den einzelnen Fall. Ob er ein solches Gefühl allerdings entwickeln, ob er es behalten könnte, wenn er eines Tages im Krankenhaus als Pfleger arbeiten würde, er weiß es nicht.
    An einem Spätnachmittag im August 1989 kam Cristian von einem Transport in die Strahlenabteilung zurück. Schon beim Aussteigen aus dem Fahrstuhl schlug ihm ein süßsaurer Geruch entgegen, dem noch nicht mal der vertraute und stets alles überdeckende Desinfektionsessig gewachsen war. Je näher er dem Schwesternzimmer kam, desto stärker wurde der Geruch. Im Aufenthaltsraum schien die Arbeit still zu stehen. Die Balkontür war weit aufgerissen, draußen stand Schwester Gertrud mit zwei anderen, und alle balancierten ein Glas Schnaps in der Hand. »Komm, nimm auch einen«, raunte Gertrud ihm zu. Es war wahrscheinlich das erste Mal, dass sie das Wort an ihn richtete, ohne dass es um die Arbeit ging.
    Sein Blick fiel in das angrenzende Arztzimmer. Die Tür stand offen. In dem Bett, das vor den Schreibtisch gestellt worden war, lag eine Patientin. Ein Zimmer war nicht frei gewesen, und es wäre ohnehin nicht zumutbar gewesen, die Frau zu einem der anderen Patienten zu legen.
    Wie er erfuhr, war sie gerade 54 Jahre alt. Der Sohn hatte sie ins Krankenhaus einliefern lassen, nachdem er sie zuhause gefunden hatte. Die Tür zu ihrer Wohnung hatte er aufbrechen müssen. Ihn musste dabei derselbe Geruch überfallen haben wie nun Cristian. Die Frau hatte in ihrem Bett gelegen, das wie ein Floß inmitten eines Chaos schwamm. Weil sie aufgrund ihrer Leibesfülle ihre Füße nicht mehr erreichen konnte, waren die Socken, die sie trug, mit der Haut zu einer zähen milchigen Flüssigkeit verwachsen, die Quelle des beißenden Geruches. Parasiten hatten sich darin eingenistet. Abgründe des Lebens. Das Bild würde ihn nie wieder loslassen.
    Warum sich der Sohn erst heute in die Wohnung geschlagen hatte, wie die Frau dort gelebt haben mochte, vielleicht jahrelang, wie es darin aussah, all das erfuhr Cristian nicht. Aber er erfuhr, dass es solche Geschichten gab, in der Mitte unserer Gesellschaft. Als Cristian sich für den Dienst im Krankenhaus entschieden hatte, hatte er mit derlei nicht gerechnet. Ihm war nicht klar gewesen, dass sich an diesem Ort die Eckpfeiler menschlichen Daseins so ungeschminkt zeigen würden. An diesem Nachmittag bekam Cristian einen Schnaps, weil der angeblich das einzige Mittel war, um den Geruch zu vertreiben. Ganz gelang dies nicht. Aber später, wenn er an diese Geschichte zurückdachte, war er dankbar für die Lehre, die ihm an diesem Ort erteilt worden war.
    Ausverkauf der Zeit
    Im zweiten Monat von Julians Dienstzeit, im Spätherbst 2011, findet ein besonderes Ereignis statt. Es ist Samstag, zehn Uhr. Normalerweise die stillste Zeit im städtischen Krankenhaus, aber heute ist der Teufel los. Ein großer Teil des Personals und viele ortsansässige Hotelbesitzer sind in die Katakomben des Hauses hinabgestiegen, um das Schauspiel nicht zu verpassen.
    Julian hatte die Waschküche bisher noch nie gesehen, und nun fragt er sich, wie Menschen hier im Keller hatten arbeiten können, den ganzen Tag bei Kunstlicht und in der stickigen Luft, die den Maschinen entweicht.
    An diesem Tag werden eimerweise Waschpulver, Bleich- und Desinfektionsmittel, mannshohe Maschinen, zwei Meter breite Mangeln samt Zubehör, riesige Bottiche und Wäschewagen versteigert. Die Waschküche der Klinik wird aufgelöst. Der Krankenhausleitung scheint es günstiger, wenn die Wäsche künftig von einem überregionalen Betrieb übernommen wird, der bereits für einige Altenheime, Hotels und Internate wäscht. Outsourcing heißt das Zauberwort. Was mit dem Personal der Wäscherei passiert, weiß keiner so genau. Aber plötzlich sind die immer gleichen Gesichter verschwunden, die zweimal täglich Wäsche auf die Station gebracht haben: Peter mit dem runden Gesicht und Steffi, die immer so viele Zähne

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