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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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diejenigen, die den Dienst an der Waffe verweigerten, und der also eng an den Wehrdienst gekoppelt war, davon ja auch betroffen sein würde. Zum 1. Juli 2011 fiel beides weg. Und die Arbeitgeber der Sozialberufe mussten schlagartig auf etwa 90000 Zivildienstleistende verzichten. Um die Lücke zu schließen, sollten die Tätigkeiten, die vorher von Zivis verrichtet worden waren, nun von Bufdis, also Bundesfreiwilligen, übernommen werden.
    Die Konsequenzen dieser Veränderung verdeutlicht ein Blick in die Geschichte des Zivildienstes: Mussten sich anfangs Zivildienstleistende in längeren Verfahren um Jobs bewerben, sind sie, nachdem die Arbeitgeber insbesondere in sozialen Insitutionen erkannt hatten, dass es sich um günstige Vollzeitkräfte handelte, schleichend in den dortigen Alltag integriert worden. Schließlich waren sie kaum noch wegzudenken. Nach dem Wegfall des verpflichtenden »Ersatzdienstes« werden nun freiwillige Kräfte händeringend gesucht, auch und vor allem in Krankenhäusern. Und das betrifft nicht mehr nur junge Männer: Die Krankenhäuser suchen Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und beruflichen Hintergrunds.
    Was hat sich also geändert seit Ende der 80er Jahre, als die Zivildienstleistenden unentbehrlich wurden? Als Zivildienstleistende in die sozialen Dienstleistungen strömten, zu einer Zeit, in der Kriegsdienstverweigerung plötzlich zum Mittel politischen Aufbegehrens und der Emanzipation einer neuen Generation wurde? Wie hat sich das Krankenhaus in der Wahrnehmung derjenigen verändert, die diese Institution mit Distanz betrachten, weil sie in der Regel nur eine begrenzte Zeit dort verbringen? Und sind die Bufdis von heute wirklich die Zivis von gestern?
    Vor gut zwanzig Jahren stand Cristian im kargen Büro der Pflegedienstleitung. Auch er bekam einen Wäschestapel, auch er einen Pieper, nur war der ein großer orangefarbener Plastikkasten. Es war Frühsommer 1989, ein friedlicher Sommertag und Cristians erster in dieser neuen Umgebung. Sechs Uhr dreißig, er hatte kaum geschlafen, aber zur Müdigkeit fehlte ihm die Gelassenheit. In einem riesigen, mit Metall ausgeschlagenen Aufzug ging es nach oben, vierter Stock, Innere Abteilung.
    Monatelang hatte Cristian neben dem Abitur gekämpft um diese Stelle. Vierzig Bewerbungen geschrieben an Essen auf Rädern, Diakonie und Caritas. Aber nirgends war etwas frei gewesen. Dann hörte er, dass das städtische Krankenhaus noch drei Stellen für Zivildienstleistende zu vergeben hatte. Und nun war er hier. Manche seiner Mitschüler hatten dieses Glück nicht gehabt. Sie waren hängen geblieben in dem zähen Verfahren von der Musterung über den Einberufungsbescheid und die Verweigerung bis zur Bewerbung um eine Stelle. Die größte Hürde: die Begründung zur Verweigerung des Wehrdienstes.
    Auf mehreren Seiten musste psychologisch nachvollziehbar gemacht werden, dass man für den Dienst an der Waffe ungeeignet war. Kam die Begründung dem am Ende entscheidenden Beamten nicht nachvollziehbar genug vor, gab es eine kommentarlose Ablehnung. Dann blieben nur der Widerspruch, der Rechtsweg, die Flucht nach Berlin, wo man in dieser Zeit vom Wehrdienst befreit war, oder der Gang in die Kaserne.
    Cristian war kreativ gewesen in der Schilderung seiner Traumata. Die politische Einstellung allein, die Beteuerung, Pazifist zu sein, das wusste er, zogen da nicht. Man musste härtere Geschütze auffahren, wollte man die Untauglichkeit für den Dienst an der Waffe überzeugend beschreiben.
    Kindheitserinnerungen, Ängste vor häuslicher oder fremder Gewalt, eine Phobie gegen Waffen jeglicher Art, Versagensängste, Verweichlichung mussten beschworen werden. Der Wehrdienst, das galt es glaubhaft zu machen, würde ein seelisches Wrack hinterlassen und dem Staat auf diesem Weg der Gesellschaft ein produktives Mitglied entziehen. Man musste an das psychologische Verständnis des Verwaltungsbeamten appellieren, mit dem es in dieser Zeit zumeist nicht so weit her war, und so hieß es: übertreiben und lügen, was das Zeug hält. Die allzu Ehrlichen blieben dabei leider zuweilen auf der Strecke. Cristian nicht.
    Im Schwesternzimmer war niemand. Erst nach ein paar Minuten rannte Oberschwester Gertrud herein und beinahe an Cristian vorbei. Sie war für ihn zuständig. Eine schnelle Hand, ein zu einer Art Lächeln zuckender Mund, ein knappes »Komm mit!«. Das war der Anfang.
    Zweiundzwanzig Jahre später eilt Julian durch die Flure des Krankenhauses, in dem er

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