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Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition)

Titel: Enteignet: Warum uns der Medizinbetrieb krank macht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Mikich
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nun ein Jahr lang seine Tage verbringen wird. Im Innern ähneln sich die Häuser damals und heute, aber die Wege hinein haben nichts miteinander gemein. Bufdi Julian brauchte keine lange Begründung, er brauchte kaum eine schriftliche Bewerbung. Ein Telefonat, ein persönliches Kennenlernen hatten genügt. Für ihn war schnell spürbar: Hier wurde er gebraucht.
    Viele hatten daran gezweifelt, ob sich die Lücke, die die Abschaffung des Zivildienstes reißen würde, mit Bufdis würde schließen lassen. Immerhin, die Bufdis kamen so zahlreich wie erhofft. 35000 im ersten Jahr 2011. Damit hatte die Bundesregierung das von ihr gesteckte Ziel erreicht. Ausschlaggebend für die relativ hohe Zahl Freiwilliger ist, dass man den Dienst für alle Alters- und Gesellschaftsgruppen geöffnet hat. Damit haben auch Beschäftigungslose, Arbeitslose, Rentner und Hausfrauen die Möglichkeit, einer Tätigkeit nachzugehen, in der sie sozialversichert und mit einem Taschengeld von etwa 12 bis 17 Euro pro Tag, je nach Dienststelle, ausgestattet sind – immerhin besser als bei einem Ein-Euro-Job. Bisher galt für ein freiwilliges soziales Jahr die Altersobergrenze von 27 Jahren. Bei Bufdis gilt sie nicht, sie sind in jeder Altersgruppe zu haben.
    Trotzdem ist der Übergang von Zivis zu Bufdis nicht allerorten so geschmeidig verlaufen, wie man es sich gewünscht hätte. Dass man sich um Julian gerissen hat, spiegelt sich auch in seiner Entlohnung: Er bekommt den Höchstsatz an Taschengeld, weil das Krankenhaus auf den Bundeszuschuss noch etwas drauflegt, insgesamt 336 Euro im Monat. Schnell ist er in den Dienstplan aufgenommen, bekommt seinen Spind, seine Tasse, seinen Platz am Tisch im Schwesternzimmer. Und er bekommt eine Einweisung. Innerhalb einer Woche lernt er das Krankenhaus kennen: die kürzesten Wege zur Röntgenabteilung und in den OP , er lernt, wo Bestrahlungen, wo das Langzeit- EKG , das EEG , die Ultraschall-Untersuchung gemacht werden. Er lernt, wie man sich die Hände desinfiziert, indem man die Finger ineinandergleiten lässt und auch die Kuppen dabei nicht vergisst – in den nächsten Monaten wird er allerdings feststellen, dass er der Einzige ist, der das auch mit aller Regelmäßigkeit betreibt. Er lernt, wie man Patienten wäscht, bettet, in den Rollstuhl hievt. Es dauert ein paar Wochen, bis er die Scham verliert vor Bettpfannen, Urinbeuteln und Einlagen, bis die Gerüche vertraut werden – von der Waschlösung und dem beißenden Desinfektionsmittel, dem Gummigeruch der Einmalhandschuhe und dem süßlichen Geruch von Flüssignahrung, dem metallischen von Blut und dem bitteren von verbrannter Haut –, bis er die Gerüche von Alter und Krankheit akzeptiert. Aber all das passiert während der Arbeit. Zeit, sich darüber auszutauschen, hat er nicht, denn Pausen gibt es kaum. Der Alltag ist durchrationalisiert, und sowohl Ärzte als auch Pfleger und Schwestern kommen kaum mit der Arbeit hinterher.
    Bei Cristian war das zwanzig Jahre zuvor nicht anders. In den 80er Jahren wurde der Begriff »Pflegenotstand« geprägt. Nur wenige wollten damals noch einen Beruf in der Pflege ergreifen, das Verhältnis von Arbeit und Bezahlung, die für eine Krankenschwester oder einen Pfleger damals bei etwa 1500 Euro brutto lag, erschien wenig verlockend, und so warben die Krankenhäuser vergebens um Arbeitskräfte. Aber die Kranken wurden deswegen nicht weniger.
    An seinem ersten Tag hatte sich Cristian noch gewundert, dass gegenüber dem Schwesternzimmer ein Raum lag, der anders war als alle anderen Zimmer. Eine Nummer hatte er nicht, stattdessen eine Glasfront zum Flur. Auf der anderen Seite nach außen gab es Balkontüren, Tische standen an den Wänden, und an der Decke hing ein brauner Grundig-Fernsehkasten, der einzige auf der ganzen Station. Kreuz und quer standen Betten mit Patienten. Erst in den nächsten Tagen erfuhr der Zivi, dass es sich eigentlich um den Aufenthaltsraum der Station handelte, der aufgrund des großen Andrangs zum Patientenzimmer umfunktioniert worden war. Bald sollte sich herausstellen, dass es die Patienten in diesem Provisorium noch gut getroffen hatten, denn wenig später reihte sich Bett an Bett entlang des breiten Mittelflures. Erst nach und nach wurden diese Betten in eines der Vier- oder Sechsbettzimmer verschoben, sobald eben ein Bett darin frei geworden war. Die Bettenwarteschlange.
    Weil auf der Station, die eigentlich maximal 40 Patienten aufnehmen konnte, in Cristians erster Zeit 52 Kranke lagen

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